Männer, die auf Ziegen starren. So lautet der Name einer grandiosen Film-Satire aus dem Jahr 2009. Und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass die abgewandelte Form „Menschen, die auf Daten starren“ den Zustand unserer Gesellschaft aktuell sehr treffend umschreibt.

Jene Daten, bzw. jener Wert, der zu großen Teil die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit seit den Anfängen dieser Pandemie bindet, ist die sogenannte Siebentageinzidenz. Diese bildet die Zahl der Ansteckungen (Anzahl der positiven Tests) der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner ab. Mit der Hilfe der Inzidenz sollte eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen Regionen einhergehen sowie eine Risikoabschätzung vorgenommen werden können. Dabei wurden immer wieder Richtwerte ausgerufen. Einmal war es eine Inzidenz von 50, die es zu erreichen galt, ein anderes Mal durfte der Wert nicht über 100 steigen. Denn spätestens dann kommt das Contact Tracing, also die Nachverfolgung der Kontaktpersonen unter enormen Druck.

Neue Faktoren verschieben Aussagekraft der Inzidenz

Doch diese Pandemie wandelt sich. Und so auch die Aussagekraft der Inzidenz über das Infektionsgeschehen und die Maßnahmen, die notwendig sind, dieses kontrollieren zu können. In Österreich schreiben wir niedrige Absolutzahlen, die jedoch stetig steigen. Doch diese Zahlen geben keine Auskunft darüber, ob die neuen positiven Fälle die Infektion schon einmal durchgemacht haben, also genesen oder schon geimpft sind. Die Inzidenz sagt auch nichts über das Alter der Betroffenen aus. Bei einer zunehmenden Durchimpfungsrate der Bevölkerung, der mit einem steigenden Schutz einhergeht, sind diese Faktoren aber notwendig, um etwa Schlüsse auf die kommende Auslastung der Spitäler zu ziehen. Hat die Inzidenz also ausgedient?

„Die Inzidenz kann die generelle Richtung anzeigen, für die Forschung war sie aber immer zu grob“, sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek. Einfach eine neue Maßzahl zu definieren oder eine solche aus dem Boden zu stampfen, sei weder möglich noch sinnvoll. „Die eine Maßzahl für die Pandemie gibt es nicht, denn eine Pandemie hat immer mehrere Dimensionen“, so der Forscher vom Complexity Science Hub Vienna.

Die Hospitalisierungsrate

Eine dieser Dimensionen ist die Lage in den Spitälern. „Wir stehen am Beginn einer vierten Welle, die Zahlen werden weiter steigen. Aber wir sehen auch, dass die Hospitalisierungen nicht im selben Verhältnis steigen“, sagt Epidemiologe Gerald Gartlehner (Donau-Universität Krems). Dies ist deswegen der Fall, weil jüngere Menschen ein geringeres Risiko haben, schwer zu erkranken. Und auch wenn sie ins Spital eingeliefert werden müssen, ist ihre Verweildauer kürzer als bei älteren Menschen. Aktuell betreffen 50 Prozent der Neuinfektionen die Unter-25-Jährigen, allerdings sind in dieser Altersgruppe auch nur etwa 25 Prozent vollimmunisiert.

Zu berücksichtigen ist also auch die Durchimpfungsrate, da schwere Erkrankungen vermieden und auch die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe des Virus reduziert werden könne. "Während vor allem die Siebentageinzidenz im Jänner noch mit großen Sorgenfalten beobachtet wurde, wird dies nicht das einzige Kriterium im Herbst sein", meinte dazu Virologe Andreas Bergthaler (Institut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften). "Es spielt eine Rolle, ob jemand infiziert ist, aber schon geimpft."

Ein Mix an Parametern

Künftig dürfte ein ganzer Mix aus Parametern zur Beurteilung der Lage herangezogen werden, meint Bergthaler. Neben der Inzidenz sollten auch die Durchimpfungsrate und die Hospitalisierungsrate für Überlegungen von Schutzmaßnahmen miteinbezogen werden als auch das Auftreten zukünftiger Varianten.

Lockdowns, sagt Klimek, seien in Österreich immer mehr an die Spitalsauslastung gekoppelt gewesen als an die Inzidenz. Ganz im Unterschied zu Deutschland, wo aktuell die Diskussion geführt wird, der Lage in den Spitälern mehr Relevanz zuzugestehen. „Die Inzidenz interessiert uns in unterschiedlichen Altersgruppen“, sagt Klimek. Er würde eine risikoadjustierte Inzidenz als sinnvoll empfinden, also eine Inzidenz, welche die Entwicklung für die jeweilige Risiko widerspiegelt.

Ähnlich sieht dies auch Gartlehner, der für den Herbst eine „Welle unter den Ungeimpften“ erwartet. „Ich halte es für eine gute Idee, künftig eine Siebentageinzidenz für Geimpfte und eine für Nichtgeimpfte anzugeben – auch, um zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Infektionszahlen in den beiden Gruppen verhalten und wie hoch der Schutz ist, den die Impfung bietet“, sagte Gartlehner gegenüber der „Presse“.

Und schließlich: Die Lage auf den Intensivstationen

So wäre es auch möglich, die weitere Belegung der Intensivstationen etwas besser einschätzen zu können. Etwa 3000 Intensivbetten gibt es in Österreich, aktuell sind rund drei Prozent belegt. Die Überlastung hier zu verhindern, wird wohl im Herbst eines der Ziele sein. Genau beobachtet wird während der letzten Wochen auch die Situation in Großbritannien werden. Denn ebenda wurden trotz hoher Infektionszahlen fast alle Corona-Maßnahmen kürzlich zurückgenommen. Wie sich also auf der Insel die Hospitalisierungsraten und auch die Belegung der Intensivstationen ist so etwas wie eine Laborbeobachtung für heimische Fachleute. Auf diese Daten werden sie starren.