In Bezug auf Telemedizin sagen Sie: „Die Zukunft ist schon vorbei.“ Wie ist das zu verstehen?
SIEGFRIED MERYN: Das soll ein Weckruf sein, weil ich der Meinung bin, dass wir in Österreich den digitalen Fortschritt der Medizin ein bisschen verschlafen. Die Entwicklung ist derart rasant, dass man wirklich sagen kann: Die vierte industrielle Revolution ist die digitale Revolution. In Österreich gelingt es uns nicht, eine zentrale Gesundheitsplattform zu schaffen. Das wäre aber ein wichtiger Schritt.

Was kann man tun, um die Digitalisierung nicht zu „verschlafen“?
SIEGFRIED MERYN: Die Verantwortlichen, insbesondere jene in der Politik, müssen den Mut fassen und mehr Initiativen setzen. Und: Man muss auch bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen. Wenn wir an künstliche Intelligenz denken, glaube ich, dass es in Europa ein Zentrum für Forschung braucht, damit wir Ergebnisse haben, die unabhängig von Konzernen sind.

Was wird sich für den Patienten ändern?
SIEGFRIED MERYN: Die Zukunft ist ein Zusammenspiel von Informationstechnologie und Biotechnologie. Es gibt smarte Uhren, die Sauerstoff, Zucker und Blutdruck messen und ein EKG schreiben können. In der Zukunft wird es so sein, dass diese Daten dazu verwendet werden können, Erkrankungen festzustellen, bevor der Träger sie bemerkt.

"Ich sehe Technik immer in Kombination mit Menschen. Der Roboter soll den Menschen nicht ersetzen", sagt Siegfried Meryn.
"Ich sehe Technik immer in Kombination mit Menschen. Der Roboter soll den Menschen nicht ersetzen", sagt Siegfried Meryn. © (c) (Jeff Mangione)

Welche Vorteile ergeben sich daraus?
SIEGFRIED MERYN: Wenn man dann zum Arzt geht, sind all diese Dinge, wie Blutdruckmessen, schon erledigt. Der Arzt hat alle wesentlichen Daten vor sich und hat fünf Minuten mehr Zeit, um mit seinem Patienten zu reden. Das 5G-Netz wird hier etwas völlig Neues eröffnen: Wir werden Daten in Echtzeit übertragen. So kann man auch Werte von Patienten, die nicht in die Praxis kommen können, an einen Arzt schicken.
Kann eine Diagnose aus der Ferne überhaupt funktionieren?
SIEGFRIED MERYN: Ich sehe die Zukunft hybrid: Es gibt schon die Möglichkeit, mit Smartphones 80 Prozent aller Hauterkrankungen zu diagnostizieren. Stellen wir uns einen älteren Menschen vor, der eine Wunde hat. Da kann die Pflegekraft ein Bild der Wunde in Echtzeit in ein Wundzentrum schicken. Dort sitzt ein Spezialist, der die Diagnose macht.

Wird moderne Technik in Zukunft noch mehr Aufgaben übernehmen?
SIEGFRIED MERYN: Ja. Es gibt Krankenbetten, die die Körpertemperatur messen und merken, wenn man sich bewegt. Diese Betten können feststellen, wenn sich Menschen wund liegen, und Patienten von allein umlagern.Können Technik und Roboter Ärzte und Pfleger ersetzen?
SIEGFRIED MERYN: Ich sehe Technik immer in Kombination mit Menschen. Der Roboter soll den Menschen nicht ersetzen, er soll dem Menschen dienen, um bessere Leistungen zu ermöglichen. Wir werden davon profitieren. Es ist nur die Frage: Setzen wir es ein und wie setzen wir es ein? Im Zentrum von Behandlungen bleibt die Menschlichkeit. Die können wir nicht ersetzen.

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Die Aufgabenbereiche werden sich also verschieben.
SIEGFRIED MERYN: Genau. Denken wir an künstliche Intelligenz, die heute schon in der Lage ist, Computertomografiebilder allein zu beurteilen. Dadurch kann sich der Mediziner neuen Dingen widmen. Gesundheitsberufe werden nicht aussterben. Im Gegenteil: Die Bevölkerung wächst, wird älter. Mithilfe der modernen Technik wird die Versorgung besser sein. Hätten wir das nicht, wäre es fraglich, wie wir in Zukunft alle versorgen können.