„Wir müssen das Potenzial für die Übertragung von Covid-19 über die Luft ernst nehmen“: Mit diesem Appell richteten sich mehr als 200 Wissenschaftler und Forscherinnen nicht nur an die breite Öffentlichkeit, sondern auch an die Weltgesundheitsorganisation WHO: Man habe in Untersuchungen zeigen können, dass beim Ausatmen, Sprechen und Husten winzige Tröpfchen – sogenannte Aerosole – ausgeschieden werden können, die wiederum in der Luft schweben bleiben und von anderen eingeatmet werden können. Es brauche mehr Vorsichtsmaßnahmen, um diesen Übertragungsweg auszuschließen, fordern die Forscher. Doch was bedeutet das nun für den Alltag: Wo ist die Gefahr der Aerosol-Ansteckung besonders groß? Und wie kann man sich schützen?

1. Ansteckung über die Luft: Was bedeutet das genau?

„Wir müssen uns jetzt nicht davor fürchten, dass wir nur noch virenbelastete Luft atmen und vor jedem Atemzug Angst haben“, sagt Bernd Lamprecht, Lungenfacharzt und Covid-Spezialist am Kepler Klinikum Linz. Was gemeint ist, ist das Übertragungspotenzial sogenannter Aerosole: Das sind kleine Virusteilchen, die in sehr feinen Tröpfchen nicht der Erdanziehungskraft zum Boden folgen, sondern in der Luft schweben bleiben und dann inhaliert werden können. „Es gilt weiterhin, dass der Hauptübertragungsweg des neuartigen Coronavirus die Tröpfcheninfektion ist“, sagt Lamprecht – dabei erreicht ein ausgehustetes oder ausgeniestes Tröpfchen direkt ein Gegenüber und infiziert diesen. „Davor kann man sich schützen, indem man den Mindestabstand einhält“, sagt Lamprecht – große Tröpfchen haben eine maximale Reichweite von 0,6 bis 0,8 Meter, dann sinken sie auf den Boden ab.

Bernd Lamprecht, Lungenfacharzt und Covid-Spezialist
Bernd Lamprecht, Lungenfacharzt und Covid-Spezialist © kk

„Schweben aber Virusteilchen in der Luft, ist eine Infektion auch über größere Entfernungen möglich – Entfernungen, die weit über den Babyelefanten hinausgehen“, sagt Lamprecht. Allerdings ist noch nicht endgültig geklärt, ob diese kleinen Tröpfchen – zwischen 0,5 und 1,5 Mykrometer – eine ausreichend große Viruskonzentration darstellen, um wirklich andere Menschen zu infizieren. „Von der Influenza aber wissen wir zum Beispiel, dass der Großteil der Viren in solchen kleinen schwebenden Partikeln transportiert wird“, sagt Lamprecht. Auch bei der ersten SARS-Epidemie 2003/04 hätte die Übertragung über Aerosole eine zentrale Rolle gespielt, zeigen die Forscher in ihrem offenen Brief auf. Und auch das Robert-Koch-Institut in Deutschland zählt die Ansteckung über Aerosole nun als einen möglichen Infektionsweg auf:

„Der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 2 Meter erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt und exponierte Personen besonders tief einatmen.“

2. Gibt es Beispiele, wo eine solche Ansteckung passiert ist?

Die internationalen Forscher zitieren eine Studie aus einem China-Restaurant, wo sich drei Gästegruppen infiziert haben, ohne dass es zwischen ihnen direkten oder indirekten Kontakt gab. Laut dem Robert-Koch-Institut ist das Singen in geschlossenen Räumen ein Beispiel dafür, wie es zu sehr hohen Erkrankungsraten kommen kann, die sonst nur selten beobachtet werden. Auch Fitnesskurse waren Ausgangspunkt für solche Ansteckungsketten – ein Radfahr-Spinning-Treffen in Wien gilt als einer der ersten beiden Cluster in Österreich. Und für Lamprecht ist auch der Cluster beim Rotarier-Treffen in Salzburgein interessantes Beispiel dafür, dass Ansteckung auch über die Entfernung möglich ist: „Hier wurden die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten und trotzdem steckten sich 15 der 26 Teilnehmer an“, sagt Lamprecht.

3. Welche Faktoren sind für die Ansteckung entscheidend?

Wie viele Viren sind in der Luft und wie viele werden eingeatmet? Das sind entscheidende Faktoren für eine mögliche Ansteckung, zeigt Lamprecht auf: „Wenn ich nur eine minimale Virus-Konzentration in der Luft habe, ist die Ansteckung sehr unwahrscheinlich“, sagt Lamprecht – daher sei das Ansteckungsrisiko im Freien auch sehr gering: Hier „verdünnen“ sich ausgeatmete Virenpartikel sehr schnell. „In geschlossenen Räumen ist das Ansteckungsrisiko daher viel größer“, sagt Lamprecht, vor allem, wenn diese schlecht gelüftet sind.

Daten zeigen, dass das Ansteckungsrisiko in geschlossenen Räumen 19-fach höher ist. Aber auch das eingeatmete Luftvolumen spielt eine Rolle, sagt der Experte – daher werden risikoreiche Kontakte auch weiterhin darüber definiert, dass man über einen Zeitraum von 15 Minuten mit einem Infizierten Kontakt hatte. Atmen wir ruhig, dann gelangt pro Atemzug etwa ein halber Liter Luft in unsere Lunge – da wir pro Minute etwa 12 Atemzüge machen, sind es pro Minute sechs Liter Luft, die wir einatmen.

„Bei Anstrengung, wie zum Beispiel im Fitnessstudio kann das Atemminutenvolumen aber 3- bis 10-Fach höher sein“, sagt Lamprecht. Daher gelte auch weiterhin die Empfehlung, bei körperlicher Anstrengung mehr Abstand einzuhalten. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit nimmt also zu, je länger man in einem Raum ist, der schlecht gelüftet wird und je intensiver man atmet.

4. Im Gegensatz sollen Schmierinfektionen nur für etwa zehn Prozent der Ansteckungen verantwortlich sein: Sollte man lieber mehr Lüften als Oberflächen desinfizieren?

„Die gute Durchlüftung ist zweifellos ein entscheidender Punkt“, sagt Lamprecht. Durch die Übertragungsmöglichkeit über Aerosole sei es in vielen Bereichen nicht ausreichend, nur Abstand einzuhalten: „Zusätzlich sollte man eine Mund-Nasenschutzmaske tragen, denn diese stellt eine physikalische Barriere dar“, sagt Lamprecht. Schon eine einfache Leinenmaske könne die Menge an Viren, die eine Infizierte Person abgibt, drastisch verringern. Und: „Für denjenigen, der die Maske trägt, bietet sie auch einen gewissen Ansteckungsschutz – doch natürlich können feinste Partikel eindringen, da die Maske nie so dicht anliegt“, sagt Lamprecht.

Und für Räume gelte: Die Anzahl der Menschen ebenso beschränken wie die Zeit, die man sich darin aufhält. Und: lüften! „Ich persönlich fühle mich in Räumen, in denen man ein Fenster aufmachen kann, viel wohler“, sagt Lamprecht. Trotzdem sei es weiterhin wichtig, auch Oberflächen wie die Griffe von Einkaufswagerl zu reinigen – schließlich können Viren dort für Stunden überleben.

Und der Fall einer Infizierten, die über einen gemeinsam benutzten Lift eine Infektionskette auslöste, deutet auch daraufhin, dass Oberflächen doch ein Ansteckungsrisiko bedeuten.

Fazit: Lamprecht unterstreicht: Noch immer sei Covid-19 eine Erkrankung, die vor allem durch Nähe übertragen werde: „Die Aerosol-Übertragung spielt wohl vor allem bei Superspreading-Events eine Rolle“, sagt Lamprecht – wenn sich ein Infizierter mit einer sehr hohen Virenlast im Rachenraum über längere Zeit mit vielen Menschen in einem geschlossenen Raum aufhält und dabei auch noch laut spricht oder singt.