Herr Allerberger, Österreich sah in den letzten Tagen einen Anstieg der Infektionszahlen: Wie sehr beunruhigt Sie das als Chef-Infektiologe des Landes?

FRANZ ALLERBERGER: Die europäische Seuchenbehörde ECDC hat bereits vor Wochen vorausgesagt, dass es Mitte Juli zu einem Anstieg der Infektionszahlen kommen wird. Wenn wir in die Länder des Westbalkans schauen, ist dort genau das passiert. Auch wir wussten: Wenn der Lockdown beendet ist, werden Menschen aus Österreich wieder in ihre Heimatländer fahren und können die Krankheit von dort mitbringen. Genauso wie der gelernte Österreicher aus dem Urlaub eine Erkrankung mitbringen kann.

Viele fragen sich: Ist das jetzt die viel zitierte zweite Welle?

Die zweite Welle ist ein Terminus, den wir von der Spanischen Grippe übernommen haben – damals kam der wahre Tsunami des Infektionsgeschehens mit Verzögerung. Diesen Begriff kennen wir in der Infektiologie sonst nicht – und ich wüsste auch nicht, warum uns jetzt ein zweiter Tsunami bevorstehen sollte, der größer ist als der erste Erkrankungsgipfel.

Warum machen Ihnen die jetzigen Zahlen keine Sorgen?

Sorge ist angebracht, wenn wir nicht mehr nachverfolgen können, wo sich die Menschen angesteckt haben. Wir können die meisten Infizierten aber Clustern zuordnen, wo wir sehen: Die Menschen waren länger als 15 Minuten in einem geschlossenen Raum und haben den Mindestabstand nicht eingehalten. Das war beim Rotariertreffen in Salzburg ebenso wie beim Sonntagsdienst in den Freikirchen in Linz. Daher geht es uns nicht so sehr um die Zahl der Erkrankten, sondern um die Nachverfolgbarkeit der Infektionen.

Es gab die Hoffnung, dass im Sommer saisonale Effekte das Virus eindämmen werden – erteilen die aktuellen Entwicklungen dieser Hoffnung eine Absage?

Bei der echten Grippe, der Influenza, ist es so, dass die Viren erst mit der kalten Jahreszeit auftauchen. Dieses neuartige Coronavirus scheint sich aber eher so zu verhalten wie die Betacoronaviren, mit denen wir bereits leben und die harmlose Atemwegsinfekte auslösen: Diese treten im Herbst bereits vor der Influenza auf und verschwinden auch im Sommer nicht ganz. Wenn sich Sars-CoV-2 tatsächlich so verhält, müssen wir befürchten, dass die Erkrankungszahlen schon im Oktober wieder ansteigen. Tatsächlich weiß niemand, was in ein paar Monaten sein wird – aber wenn ich an den Herbst denke, bekomme ich ein mulmiges Gefühl.

Was ist im Herbst anders?

Wir haben ja in den letzten Monaten einiges über dieses Virus dazugelernt: Zum Beispiel wissen wir, dass das Ansteckungsrisiko im Freien sehr gering ist. Das zeigen auch die riesigen Demonstrationen vor einigen Wochen, wo nachweislich auch Infizierte darunter waren, aber es zu keinem Ansteckungsgeschehen kam. Aber im Herbst treffen wir uns wieder in Innenräumen, wir lüften nicht, weil es kalt ist – das steigert das Risiko. Und: 90 Prozent der Bevölkerung sind für das Virus empfänglich. Wir müssen die Erkrankung ernst nehmen und Menschen mit hohem Risiko schützen. Gleichzeitig haben uns Zahlen aus Ischgl gezeigt, dass die Sterblichkeit bei etwa 0,3 Prozent liegt – das ist höher als bei der Grippe, aber für junge Menschen auch nicht zum Fürchten.

Sind wir für den Herbst gut vorbereitet?

Jein. Im Herbst hat ja fast jeder von uns eine rinnende Nase oder Halskratzen – aber nicht jedes Fieber, jeder Husten ist Covid-19! Das schnell abzuklären, schnell die richtige Diagnose zu bekommen, wird die neue Herausforderung. Dazu werden wir auch die Hausärzte einbinden müssen – das Gesundheitstelefon 1450 hat jetzt gute Dienste geleistet, aber im Herbst, wenn jeder Zweite hustet, wird das nicht mehr funktionieren. Auch Hausärzte müssen Coronatests veranlassen können – Covid-19 wird sich in die Reihe der Winter-Infekte einordnen.

Besteht jetzt keine Hoffnung mehr, das Coronavirus auszurotten?

Die Weltgesundheitsorganisation glaubt weiterhin, dass das Virus aussterben könnte – die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich denke, wir können uns davon verabschieden, dass das Virus auszurotten ist.