Siri stellt sich dumm. Die Frage „Sammelst du Daten?“ perlt an der virtuellen Telefonassistentin ab: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.“ – Seltsam. Sonst versteht und weiß das Wunderding doch auch alles ... Aber man kennt diese Abwehrreaktion aus Untersuchungsausschüssen und Gerichtsverhandlungen, wenn sich Zeugen der Aussage entschlagen, um sich nicht selbst zu belasten.
Denn Sprachassistenten wir Siri oder ihre Amazon-Verwandte Alexa sind längst nicht nur allzeit willige Informationslieferantinnen, sondern auch „überaus aktive Abhöreinrichtungen“, wie Helmut Spudich in seinem aktuellen Buch „Der Spion in meiner Tasche“ warnt.

Helmut Spudich: Der Spion in meiner Tasche. Verlag edition a. Eine lesenswerte Warnung vor Unachtsamkeit.

Der IT-Experte beschreibt darin umfassend die Wirkkraft der vielen Datenstaubsauger, die in den handlichen, tragbaren Telefonen verbaut sind. In Form millimeterkleiner, aber hochempfindlicher Sensoren sammeln sie unentwegt Informationen über ihre Umgebung und ihre User. Sie hören, fühlen, messen, sehen – und vor allem verknüpfen sie die so erhobenen Daten miteinander und fügen sie wie bei einem Puzzlespiel zu einem Gesamtbild zusammen.

Man kann sich das wie die Funktionsweise der in die Smartphones integrierten Kameras vorstellen, die auf eine hochkomplexe Gesichtserkennungssoftware zurückgreifen. Vordergründig eine Erleichterung zum kontaktlosen Entsperren des Geräts – im Hintergrund aber rechnen mehrere Kameras und Infrarotsensoren an einer dreidimensionalen Darstellung des Gesichts.

"Gläserner Mensch"? Selbst schuld

Diese Daten sind wertvoller Rohstoff einer Wirtschaft, die von Zutritts- bis Bezahlsystemen, vom Handel bis zu Dienstleistungen, von polizeilicher Überwachung bis privater Vernetzung zunehmend auf Face Recognition (Gesichtserkennung) setzt. Und die Selfie-hungrigen Handynutzer sind über Foto- und Videoapps wie Tik Tok oder Snapchat ein nicht müde werdender globaler Lieferantenpool. Nicht nur das: Sie helfen auch noch durch das „Taggen“ (das Benennen der auf dem Foto ersichtlichen Personen) bei der korrekten Beschlagwortung.

Die Kritik an der Evolution hin zum „gläsernen Menschen“ wird so zur Selbstanklage. Gegengift? Die Deaktivierung der Gesichtserkennungsfunktion in den Einstellungen des Social-Media-Kontos hilft – wenn auch nur mit überschaubarer Wirkung.
Zur fotografischen Archivierung durch das Smartphone kommt die Vermessung des Verhaltens seines Besitzers. Auch bei diesem Datensammeln tut sich der stets präsente Spion leicht. Es ist eine Mischung aus Unwissen und Unvorsichtigkeit, Naivität und Bequemlichkeit, die den Benutzer zum Ausgenutzten macht. Kaum einer deaktiviert Ortungs-, Bildzugriffs-, Kamera- oder Mikrofonfunktion, wenn er eine App installiert. Das macht es den Programmen einfach, das Verhalten zu scannen, entsprechende Daten abzugreifen und über Algorithmen Verhalten und Vorlieben zu prognostizieren. Das Ergebnis: Man steigt morgens ins Auto und das Handy-Navi weiß mit hoher Treffsicherheit, dass man sich auf den täglichen Weg zum Arbeitsplatz oder zur Schule der Kinder macht, und weiß auch, wie lange man für die übliche Route braucht, welche Verzögerungen es durch aktuelle Baustellen und mögliche Ausweichvarianten gibt. Bequem? Für die meisten. Bedenklich? Für die wenigsten.


Jene, die sich nicht so offensichtlich „tracken“ (verfolgen) lassen wollen, denen jubeln findige Anbieter eben eine unverdächtige Sport-App unter. Sie zeichnet nicht nur jeden Laufschritt und Pulsschlag auf, sondern liefert über Beschleunigungssensoren und Satellitendaten auch zuverlässige Bewegungsmuster samt Gesundheitsdaten.

Sicherheit als Holschuld

Nach demselben Ortungsmodell oder über Bluetooth-Kontakt funktionieren auch die aktuell viel besprochenen „Stopp Corona“-Apps – „unter strikter Einhaltung des Datenschutzes und mit keiner Übertragung der Daten an Apple oder Google“, wie man von der EU bis zum Roten Kreuz betont.
Bei kommerziellen Apps wird dieses Sicherheitsversprechen vielfach zur Holschuld: Man müsste in den selten gelesenen Nutzungsbestimmungen im Kleingedruckten die Erlaubnis zur Datenweiterverwertung deaktivieren. Macht fast niemand. Im Gegenteil.
Auch diese Leichtsinnigkeit ist längst zum Geschäftsmodell geworden. Massenwirksames Beispiel: die globale Schnitzeljagd beim Smartphonespiel „Pokémon Go“. Viele Verstecke der Figuren waren nicht zufällig gewählt, sondern wenig getarnte Inserate. So bekam Geolokalisierung einen neuen Spin, wie IT-Experte Spudich in seinem Buch meint: Das Verhalten der User wird nicht mehr nur protokolliert, sondern aktiv gelenkt und verändert. Ist es in diesem Fall sein Spieltrieb, der den Menschen zu einem offenen Buch macht, ist es auf der anderen Seite seine unstillbare Gier nach Kommunikation.

65 Milliarden WhatsApp-Posts pro Tag

Sie wirkt wie ein sozialer Selbstzünder für vielzylindrige Kommunikationsmotoren. Unsere Gesellschaft scheint verdammt zu sein zur Dauerkonversation. Von den 1,5 Milliarden Menschen, die weltweit WhatsApp verwenden, werden täglich 65 Milliarden Nachrichten verschickt.
Es gibt kein Ende. Fortwährend regnet es weitere weiße (WhatsApp) oder graue (Messenger) Sprechblasen auf den Bildschirm. Fortwährend antwortet man mit hektischem Getippse in grüne (SMS) oder blaue (Telegram) Textkästchen. Es sind die Tagebücher unserer Zeit. Wobei sich das Leben zu einer einzigen Gruppentherapie zu entwickeln scheint, die gegen einen maximal aggressiven Virus ankämpft: Hohe Infektionsgefahr, enorme Reproduktionsraten und längst keine x-te Welle mehr, sondern eine Sturzflut an Selfies, Smileys und Sprachfetzen lassen die Handymenschen ertrinken in einem gezeitenlosen – es gibt keine Ebbe, keine Nachtruhe und keinen Sendeschluss – Meer aus weitgehend belanglosem Kommunikationsmüll.

Handy als Krankheitsmelder

Für die digitalen Abfallaufbereiter steckt aber auch in diesem Morast ohne Moral, Grammatik und Verschnaufpausen wertvollstes Rohmaterial: Daten – das Gold des 21. Jahrhunderts. Weil sie viel mehr über uns preisgeben, als wir selbst verraten. Sie wirken wie digitale Fingerabdrücke, die etwas über Gewohnheiten, Besonderheiten bis hin zu Krankheiten erzählen. Das Handy erkennt Schrittgeschwindigkeit, Pulsschlag, Sprechtempo, scannt im Verbund mit einer Smartwatch oder gekoppelten Sportuhr auch unsere Tiefschlafphasen, merkt sich über Sensoren die Stärke, mit der wir auf die Touchscreentasten drücken und wie oft wir uns dabei vertippen. „All das ermöglicht es, einen sogenannten digitalen Phänotyp zu erstellen“, schreibt Spudich. Das kann aber auch nützlich sein – wenn das Handy so erste Symptome von Parkinson erkennt.


Die Maschine übernimmt also das Kommando. Wie im Science-Fiction-Epos „2001 – Odyssee im Weltraum“, wo mit Bordcomputer HAL der Stammvater von Alexa und Siri auftritt. Konfrontiert man Siri aktuell mit ihrem Urahn, geht sie auf Distanz und liefert eine U-Ausschuss-taugliche Antwort: „HAL hat leider einige schlechte Entscheidungen getroffen. Aber zumindest konnte er singen.“