In einem überfüllten Callcenter in Südkorea steckte ein Covid-Infizierter 94 weitere Menschen und damit gut die Hälfte seiner Kollegen an.  Bei einer Chorprobe in den USA infizierte ein Sänger 53 andere. Nach einem Gottesdienst in einer Freikirche in Frankfurt waren 200 Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Und auch heimische Beispiele gibt es: Dem Ausbruch „Postverteilerzentrum“, der zwei Verteilerzentren in Wien und Niederösterreich betraf, ordnet die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, kurz Ages, 259 Erkrankungsfälle zu. Und die Geschehnisse in Après-Ski-Bars in Ischgl sind laut Daniela Schmid, leitende Epidemiologin der Ages ebenfalls als Superspreading Events zu sehen: Welch entscheidende Rolle diese Ereignisse, bei denen ein Infizierter eine große Zahl anderer Menschen ansteckt, für die Ausbreitung der Pandemie spielen, wird nun immer klarer.

„Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sich ein Virus verbreiten kann“, erklärt Schmid: Die Ausbreitung kann homogen erfolgen: Ein Infizierter führt in diesem Szenario zu immer gleich vielen weiteren Fällen der Erkrankung – laut Schmid wurde gezeigt, dass sich die spanische Grippe so verbreitet hat. Für Covid-19 würde das bedeuten, dass ein Infizierter immer zwei bis drei weitere Menschen ansteckt – denn so hoch ist die Reproduktionszahl dieser Erkrankung.

Mehrzahl der Infizierten steckt niemanden an

„Doch das ist nicht der Fall, bei Covid-19 sehen wir vielmehr eine heterogene Ausbreitung“, sagt Schmid. Das bedeutet: Wenige Infizierte sind für viele weitere Ansteckungen verantwortlich, während viele Infizierte überhaupt niemanden anstecken. Der britische Epidemiologe Adam Kucharski hat in einer Studie berechnet, dass zehn Prozent der Infizierten bei Covid-19 zu 80 Prozent der Ausbreitungführen. Das bedeutet: Superspreading spielt bei der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus die zentrale Rolle.

Fitness-Kurse und Hochzeiten, Chorproben und Gottesdienste, Begräbnisse und Après-Ski-Partys: Was sind die Faktoren, die diese Zusammenkünfte zu Infektionsclustern machen? Laut Schmid müssen drei Faktoren zusammenspielen, damit es zu so einem Event kommt.

  • Faktor ein, der Infizierte: Der Infizierte muss „höchst ansteckungsfähig“ sein, wie Schmid sagt. „Nicht jeder Erkrankte scheidet gleich viele Viren aus“, sagt Infektionsspezialist Robert Krause (Med Uni Graz). Während manche Infizierte im Nasen-Rachenraum eine Million Viren und mehr tragen, haben andere eine geringere Viruslast. Für diese Unterschiede gibt es Erklärungsansätze, wie Bernd Lamprecht, Lungenfacharzt am Kepler Klinikum Linz sagt: „Die eigene Viruslast hängt unter anderem davon ab, mit wie vielen Viren man selbst bei der Ansteckung konfrontiert wurde.“ Aber auch die Reaktion des eigenen Immunsystems auf das Virus spielt eine Rolle: Ist die Immunantwort und die eigene Abwehr schwach, werden auch mehr Viren weitergegeben. Was aber für alle Infizierten gilt: Am ansteckendsten ist man zwei Tage vor den ersten Symptomen bis etwa zwei Tage nach Symptombeginn. „Diese präsymptomatischen Ansteckungen sind besonders kritisch, da die Menschen noch ganz normal zur Arbeit gehen, aber schon hochansteckend sind“, sagt Schmid.

  • Faktor zwei, die Empfänger: So ein ansteckender Mensch muss dann auf eine große Gruppe anderer Menschen treffen. Dabei spielt auch die Art des Kontaktes eine zentrale Rolle: Beim lauten Sprechen oder Singen werden mehr infektiöse Tröpfchen ausgestoßen – und diese müssen dann für eine gewisse Zeit auf die Empfänger einwirken. „Daher sind Chorproben oder Fitness-Kurse typische Szenarien, wo es zu vielen Übertragungen kommen kann, wenn der Chorleiter oder der Fitnesstrainer infiziert ist“, sagt Schmid.

  • Faktor drei, die Umgebung: Und das alles muss sich noch in einer Umgebung abspielen, die der Ansteckung zuträglich ist. „Die bestmögliche Umgebung für eine Ansteckung über Tröpfcheninfektion sind nicht oder schlecht gelüftete Innenräume“, sagt Schmid. Eine Studie aus Japan hat gezeigt, dass das Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken, in Innenräumen 19-fach höher ist als im Freien. In solchen Räumen mit besonders trockener Luft können aus kleinen infektiösen Tröpfchen Aerosole werden: Diese dehydrieren und sinken nicht zu Boden, sondern halten sich als Schwebeteilchen in der Luft und können eingeatmet werden. Welche Rolle diese Aerosole nun wirklich für die Ansteckung spielen, ist noch nicht klar – laut Spezialist Lamprecht gilt auch: Je intensiver man atmet – durch Anstrengung zum Beispiel – desto mehr Virenpartikel können aufgenommen werden.
Daniela Schmid, Chef-Epidemiologin Ages
Daniela Schmid, Chef-Epidemiologin Ages © APA/HELMUT FOHRINGER

Prinzipiell ist die Ausbreitung des Virus vor allem über Cluster aber eine gute Nachricht: Einerseits zeigen diese Ansteckungsszenarien, dass man sich „nicht im Vorbeigehen auf der Straße ansteckt“, sagt Schmid. Aber vor allem kann solchen riskanten Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden: Räume, in denen sich mehrere Menschen treffen, sollen gut gelüftet sein oder mit entsprechender Raumlufttechnik ausgestattet werden; Abstand halten bleibt weiterhin wichtig; in Räumen muss besonders auf die richtige Nies- und Hustenetikette geachtet werden. „Und das Allerwichtigste: Wer sich krank fühlt, muss zu Hause bleiben“, sagt Schmid. Das gelte besonders für Menschen, die viele Kontakte zu anderen haben.

Absage an Großveranstaltungen?

Aber: Sind all diese Erkenntnisse nun eine Absage an Großveranstaltungen? „Nein“, sagt Chef-Epidemiologin Schmid – zwar seien diese prädestiniert dafür, Superspreading zu begünstigen, aber: „Wir dürfen uns nicht zur Geisel des Virus machen lassen, sondern müssen das Risiko auf ein lebbares Minimum reduzieren.

Was jetzt zähle sei Rücksichtnahme – indem man zu Hause bleibt, wenn man krank ist und seine Tröpfchen – zum Beispiel durch lautes Telefonieren in Öffis - nicht in der Umwelt verteilt. Dadurch lassen sich auch alle anderen ansteckenden Atemwegserkrankungen reduzieren.