Für nicht wenige Menschen bedeutet das Erreichen des dreißigsten Lebensjahres eine krisenhafte Situation. Sie, die sich bisher als jung erlebt haben, scheinen durch dieses magische Datum gleichsam die Erlaubnis zu verlieren, sich selbst so zu sehen. Die Dreißigerkrise wächst sich in aller Regel von allein aus: Nach einigen Wochen hat man vergessen, dass man sich das Leben als nicht mehr so ganz junger Mensch nicht vorstellen konnte – oder besser wollte –, und man lässt sich wieder, wie schon vorher, vom Alltag einnehmen.

Wir, die wir älter als dreißig sind, wissen: Es passiert nichts, nur weil wir eine Datumsgrenze überschreiten. Mit fünfzig und sechzig erleben viele Menschen ebenfalls eine Geburtstagskrise. Diese mündet meist in dem Vorhaben, die Lebenszeit intensiver zu nutzen, da einem die Endlichkeit des eigenen Seins plötzlich deutlich vor Augen ist.

Illusion: Alles ist möglich

Wir wollen also jung bleiben, aber möglichst lange leben. Das ist eine ziemliche Herausforderung. Wir betreiben exzessiv Sport, konsumieren Botox und Schönheitsoperationen, zumindest verheißungsvolle Produkte der Kosmetikindustrie und vieles mehr, um – übertrieben gesagt – im Zustand der ausgedehnten jungen Erwachsenzeit im Alter von 100 plus fit wie ein Turnschuh diese Erde zu verlassen.

Rückwärtsgewandter Lebensstil

Ist das eine gute Idee? Möglicherweise nicht, denn auf diese Weise versuchen wir uns wie ein Objekt zu konservieren. Es entsteht ein rückwärtsgewandter Lebensstil, der dem Wesen nach alt ist. Wir blicken gleichsam in den Rückspiegel der Zukunft entgegen. Etwas bleiben zu wollen ist ein Zeichen des Alters, etwas werden zu wollen ist das Junge in uns. Denn der junge Mensch mit seinem sich entwickelnden Gehirn interessiert sich dafür, der Welt zu begegnen. So nimmt er die Erfahrungen auf und erweitert seine Sicht auf die Welt. Nicht nur das: Er wird ständig ein anderer und wird immer mehr zu dem, was er werden kann. Er wächst in die eigene Größe hinein. Entwicklung heißt, in die eigene Größe hineinwachsen.

Die Begegnung mit der Welt, die einen formt, informiert im eigentlichen Wortsinn, ist von Anfang unseres Lebens an die einzige Möglichkeit, als Ich geboren zu werden. Manche Menschen wachsen ein ganzes Leben lang und ermöglichen sich durch waches Interesse stets kreative und konstruktive Veränderung. Wie langweilig ist es, mit Menschen zu sprechen, die immer nur ihre Meinungen zum Besten geben, in der Hoffnung, bestätigt zu werden. Wie ergiebig ist es, mit Menschen in Kontakt zu treten, die an einem Diskurs interessiert sind, der von einem Geben und Nehmen, einem offenen Austausch geprägt ist! Solche sind auch dann jung, wenn sie fast hundert Jahre alt sind. Wie alt ist dagegen mancher 25-Jährige. Das Alter ist eine Illusion, wenn wir in der wachen Begegnung mit der Welt ein Leben lang zur Geburt unseres Ich beitragen und uns stetig neu werden lassen. Dabei stabilisieren wir uns durch unser Werden und nicht durch das So-bleiben-Wollen.

"Geburtstagskrisen"

Zur Kompetenz der Begegnung gehört eine Offenheit, die vielen durch katastrophale Lebenserfahrungen verloren gegangen ist. Solche Lebenserfahrungen sind in erster Linie Verlusterlebnisse. Geliebte Menschen, Gesundheit, der soziale Status: Wenn sie verloren gehen, kann uns das schockieren. Krisen sind Zustände, in denen wir uns sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, so, ohne das, was verlustig gegangen ist, weiterleben zu können. Dabei wird unser Vertrauen in die Welt beeinträchtigt. Damit ist unsere Möglichkeit, uns zu verändern, eingeschränkt. Sie ist leider gerade dann eingeschränkt, wenn wir die Veränderung am meisten brauchen würden. Nicht zuletzt daher ist man in Lebenskrisen – in wirklichen Krisen, die ihren Namen verdienen, nicht in den oben genannten „Geburtstagskrisen“ –, in einem verzweifelten Dilemma. Wir können vermeintlich nicht mehr so weiterleben wie bisher, aber auch keinen brauchbaren neuen Lebensentwurf für uns selbst finden.

Manche Menschen verbittern dabei. Sie suchen das alte Leben, das ihnen nicht mehr zur Verfügung steht, und finden es nicht mehr. So fristen sie ihr Leben in ihrem Jammertal, in das sie sich durch das eigene Selbstmitleid immer mehr eingraben, ohne sich dessen bewusst zu sein. So sind sie leider sehr alt, weil ihr Herz verschlossen ist. Verbitterung ist Herzensverschlossenheit. Sie ist kein „Privileg“ des höheren Lebensalters.

Andere haben die Kraft und den Mut, in Krisen nach der Phase der Verzweiflung, des fundamentalen Selbstzweifels gegen die inneren Existenzängste anzuleben und sich dem Neuen zu stellen. Sie machen die Erfahrung, dass sie ohne das, was sie verloren haben und was vermeintlich unverzichtbar war, leben können. Diese Erfahrung ist die Erfahrung des Wunders des Lebens. Sie macht frei und gelassen. Nun kann alles im Leben auf einen zukommen, man weiß, nichts kann einem etwas anhaben. Die Offenheit, die aus wahrlich bewältigten Lebenskrisen entsteht, ist die Basis eines Jungseins, das nicht mehr gegen das bedrohliche Alter ankämpfen muss.