Sie leben und arbeiten seit vielen Jahren in Österreich. Warum war es ausgerechnet jetzt Zeit für ein in Buchform gegossenes „Plädoyer für eine gesunde Gesellschaft“?

GERNOT SCHWEIZER: Das hat viele Gründe. Einer ist, dass wir durch die Digitalisierung keine Motivation mehr in die Bewegung reinbekommen. Theoretisch könnte man ins Internet gehen und dort stundenlang Yoga üben – aber es kommt nicht an. Der Reiz ist einfach nicht stark genug, um den Menschen aus seinem Phlegma zu holen. Ich bin zum Schluss gekommen, dass wir nicht mehr verstehen, warum genau Bewegung für die gesamte Gesundheit den allerhöchsten Wert hat.

Und Letzteres wollten Sie schwarz auf weiß darlegen?

Genau! Um klarzumachen, warum ich mich im Alltag mehr bewegen soll, ohne mich gleich mit Spitzensportlern zu vergleichen, warum ich meine Kinder wieder mehr draußen spielen lassen soll und warum Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gefordert sind. Die Zahlen sind erschreckend. Der Altersschnitt der orthopädisch und internistisch Erkrankten wird immer jünger, jeder dritte Bub ist zu dick.

Das Buch: Bewegung!
Das Buch: Bewegung! © Ecowin

Sie orten gravierende Probleme bei Methoden zur Erziehung bzw. zur Betreuung unserer Kinder. Was läuft da schief?

Ich kann zum Beispiel gar nicht mit Gehhilfen für Kleinstkinder leben, die das heute gängige Konkurrenzdenken „Mein Kind läuft früher als deines“ unterstützen, weil Säuglinge erst ab einem gewissen Alter zum Gehen geeignet sind. Ein Kind muss von seinen Sinneswahrnehmungen, aber auch von der Orthopädie her erst lernen, „auf eigenen Füßen zu stehen“. Steckt es aber in einer Art Schwebezustand in einer Gehhilfe, läuft es mit falscher Biomechanik und Motorik und kann gravierende Fehlstellungen wie den sogenannten Spitzfuß entwickeln.

Wie ist der natürliche Verlauf?

Natürlich wäre es, wenn ein Kind aus dem Liegen in den Stütz, aus dem Stütz ins Krabbeln und von dort in den Stand und am Ende ins Gehen kommt. Nur so lernt ein Kind, sich selber zu spüren, nur so kann sich die Wirbelsäule und das nötige muskuläre Stützkorsett entwickeln. Aber wir tun uns zunehmend schwer, zuzulassen, dass sich unsere Kinder entsprechend der eigenen Natur entwickeln.

Laut jüngster OECD-Studien ist die Lebenserwartung in Österreich am Sinken. Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptgrund dafür?

Der Wohlstand! Dazu zähle ich das industrielle Essen und die Mittel der modernen Mobilität. Letztere führen dazu, dass sich der Mensch immer weniger bewegt, immer digitaler unterwegs ist und immer weniger Zeit für sich selbst hat. Die Leut’ spüren sich selbst nicht mehr, fühlen aber genau, wie es dem Pokémon am Bildschirm geht. Wir erleben eine emotionale Wegentwicklung von der natürlichsten Sache der Welt. Der Mensch ist evolutionsgeschichtlich dazu geboren, zu jagen, zu überleben und dafür weite Strecken zu bewältigen. Heute muss man aber nur noch maximal 500 Meter bis zum nächsten Supermarkt schaffen.

Gernot Schweizer, Bewegungskoordinator
Gernot Schweizer, Bewegungskoordinator © Udo Titz

Sie verteilen in Ihrem Buch „Bedenk-Zettel“ an Eltern. Was steht auf dem allerwichtigsten?

Am allerwichtigsten ist mir das Verständnis dafür, dass ein Kind mit 100 Milliarden Gehirnzellen auf die Welt kommt, von denen viele für das Erlangen von Bewegung zuständig sind. Um diese aber abrufen zu können, braucht das Kind das „Vorleben“ durch die Eltern.

Im Ton etwas strenger verpassen Sie der Politik „Denk-Zettel“. Was ist Ihre Hauptforderung an die kommende Regierung?

Zahllose Studien belegen, dass kognitive Verhaltensänderungen über Bewegung ausgelöst werden können. Ich spreche nicht von fünf, sechs Stunden Sport pro Schulwoche, sondern vom sogenannten „bewegten Unterricht“, der basierend auf den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft neu gestaltet wird. Ich bitte die Politik, nicht weiter in trägen Systemen zu verharren, sondern ein Bildungskonzept zu installieren, das bereit ist, Bewegung und Ernährung auf einer ganz anderen Ebene als bisher aufzunehmen. Ich will diese Trägheit jetzt beendet sehen!

Und der Denk-Zettel für die Wirtschaft?

In zehn Jahren würde die Wirtschaft enorm von dem profitieren, was wir jetzt sofort verändern könnten. Die aktuellen Statistiken von Burn-out oder Bandscheibenproblemen bei den unter 30-Jährigen sind verheerend. Die wollen Leistung bringen, sind aber nicht mehr dazu in der Lage. Viele stecken in einem Kreislauf aus Burn-out, orthopädischen Krankheiten, Bewegungsmangelerkrankungen wie Bluthochdruck und einem kognitiven Abbau, der Konzentration gar nicht mehr zulässt. Wie soll die europäische Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir die Leistung nicht auf eine gesunde Ebene heben? Auch deshalb ist es wichtig, dass die Wirtschaft moderne Programme unterstützt – um wieder leistungsfähige, junge Menschen zu kriegen.