Lesen lernen ist für alle Schulanfänger schwer. Aber für manche Kinder erschließt sich die Welt der Buchstaben nur mit viel Mühe und einer Extraportion Fleiß. Zwischen vier und sechs Prozent aller Kinder sind von einer Lese- und Rechtschreibstörung betroffen, der Fachausdruck dafür ist so geläufig wie gefürchtet: Legasthenie.

Aktuelle Studie

Bis vor Kurzem gab es die These, dass Kinder mit Legasthenie in der Anfangslesestrategie stecken bleiben. Sprich: Es werden nur einzelne Buchstaben vom Lesenden zusammengefügt, ganze Wörter werden nicht als solche erkannt. Diese Annahme widerlegt nun eine aktuelle Studie der Universitäten Graz und München unter der Federführung der Grazer Entwicklungspsychologin Karin Landerl. Sie beschäftigt sich bereits knapp 30 Jahre mit dieser Lernstörung und erzählt: „Mittels EEG und Eyetracking konnten wir feststellen, dass auch Kinder mit einer Leseschwäche ganze Wörter oder Wortteile abgespeichert haben. Aber es gelingt ihnen nicht, schnell darauf zuzugreifen.“

Nicht immer im Duett

Lange ging man davon aus, dass legasthenische Kinder ein phonologisches Defizit hätten - also die Sprachlaute schwer mit der Schrift in Verbindung bringen können. „Das scheint aber nur am Anfang des Schriftspracherwerbs zu stimmen“, sagt die Expertin. Denn im Studienverlauf fiel auf: Immer wenn es um das schnelle „Übersetzen“ von visuellen in verbale Informationen geht, wird's stockend. „Das passiert beispielsweise auch, wenn die Kinder eine Abfolge von Ziffern rasch benennen müssen - obwohl sie die Ziffern problemlos erkennen.“ Das erkläre auch die Tatsache, dass Lese- und Rechtschreibschwäche nicht immer im Duett auftreten. Manche Kinder können zwar gut lesen, aber nicht gut rechtschreiben. Andere haben die Rechtschreibung drauf, lesen aber sehr mühevoll.

Studien zeigen: Legasthenie ist in der Regel vererebt
Studien zeigen: Legasthenie ist in der Regel vererebt © (c) carlacastagno - stock.adobe.com


„Sorgen bereitet mir vor allem die zweite Gruppe, also jene Kinder, die im Schreiben nicht so auffallen“, meint Landerl. Denn in der Förderung von Legasthenikern werde größeres Augenmerk auf die Rechtschreibung gelegt. Und in den höheren Schulstufen bleibe eine unterentwickelte Leseleistung oft unerkannt. „Das ist dramatisch. In unserer Informationsgesellschaft gibt es für eine schlechte Rechtschreibung gute technische Hilfsmittel wie Rechtschreibprogramme.“ Wer sich mit dem Lesen schwertut, sei massiver von einer Legasthenie betroffen. Landerl: „Heutzutage gibt es ja nur noch ganz wenige Berufe, in denen man nicht auf Informationen aus geschriebenen Texten zugreifen muss.“

Legasthenie, das ergaben andere Studien, ist in der Regel vererbt. „Wenn bereits ein Elternteil oder ein Bruder bzw. eine Schwester betroffen sind, gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass auch das Kind diese Lernstörung hat“, erklärt die Wissenschaftlerin. Vor Schuleintritt lasse sich das nicht so leicht erkennen, „außer das Kind ist in seiner Sprachentwicklung auffällig, sodass schon im Kindergarten die Logopäden aufmerksam werden“.

Mehr üben

Landerls Tipp für Eltern von Schulanfängern: „Die Dinge in der ersten Klasse einmal im Auge behalten. Bis etwa Weihnachten sollte das Lesen von einfachen Wörtern mit den bekannten Buchstaben gelingen. Wenn das nicht der Fall ist: Mehr üben.“ Und wenn auch das ins Leere geht? „Dann sollte man eine Intervention durch Experten andenken.“ Immer in enger Absprache mit den Pädagogen, versteht sich.

Einmal Legastheniker, immer Legastheniker. Stimmt das so? Oder ist es möglich, dieses Defizit über die Jahre auszugleichen? „Legasthenie ist sicher ein Thema, das die betroffenen Menschen bis ins Erwachsenenalter begleitet“, erklärt Landerl, „allerdings ist es immens wichtig, wie die Betroffenen, die Angehörigen und die Pädagogen damit umgehen.“ Vorrangig wäre die Erkenntnis: „Wir sind nicht in allen Bereichen gleich begabt.“ Manche täten sich mit Mathematik schwer, andere eben mit dem Schreiben und Lesen. Und die einzige Strategie, das abzuschwächen, sei üben, üben, üben. „Man sollte an dem Thema beständig dranbleiben. Und vor allem als Elternteil darauf schauen, dass diese Übung trotzdem mit möglichst viel Freude und möglichst wenig Druck passiert.“