Amelie ist vier und hat zurzeit keine Lust. Keine Lust auf Aufstehen, keine Lust auf Kindergarten. In der Kleinkind-Tennisstunde bleibt sie auf der Bank neben dem Platz sitzen und starrt stur auf ihr Tennisracket. Eine geschlagene Stunde lang.

Was also tun als Elternteil oder Trainer? Amelie einfach in Ruhe starren lassen? Ihr zeigen, wie viel Spaß Tennis gerade heute macht? Sie mühsam überreden, doch mitzuspielen? Oder sie zu warnen, dass dies dann vielleicht die letzte Tennisstunde sein würde? Was könnte die beste Strategie sein, Amelie zum Mitmachen zu motivieren? Schließlich hat sie so viel Talent!

Schmaler Grat zwischen Fördern und Überfordern

„Tja, wenn wir das immer so genau wüssten! Doch den einen Königsweg für alle gibt es leider nicht“, seufzt Sabina Pauen. Die Professorin für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie an der Universität Heidelberg hat etliche Bücher zur Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren publiziert. Sie weiß, dass es im Kleinkind- und Vorschulalter ein schmaler Grat sein kann zwischen Fördern und Überfordern. Die alte Krux mit dem haushohen Unterschied zwischen gut und gut gemeint.

Was die Entwicklungspsychologie leider nicht zeigen kann, ist die eine geniale Förder- und Motivationsmethode. Denn jede Strategie hat eine Wirkung. Und eine Nebenwirkung. „Wenn ich Druck auf das Kind ausübe, hat das die Folge, dass sich das Kind mehr mit dem Thema beschäftigen wird. Vermutlich stellt sich sogar eine Leistungsverbesserung ein. Das hat allerdings einen hohen Preis, weil das Kind immer denken wird: Ich mach das nur, weil meine Mutter oder mein Vater das will. Die Tätigkeit - ob Schule, Sport oder Instrument -wird also mit negativen Gefühlen verbunden“, erklärt Pauen. Auch die Methode am anderen Ende des Spektrums - nach dem Motto „Schauen wir einmal, ob das überhaupt was wird“ - hat bestimmte Folgen. Entweder ergibt sich ein tieferes Interesse des Kindes dafür oder eben nicht. Mit dem Risiko, Käufe und Kursbuchungen für dieses neue Hobby umsonst getätigt zu haben.

"Das Wichtigste ist ein guter Kindergarten"

Zwischenfrage: Brauchen Kleinkinder überhaupt schon den extra Englischkurs? Oder die Schauspielstunde? „Nein, brauchen sie nicht“, erklärt die Expertin, „das Wichtigste ist ein guter Kindergarten. Dort bekommen die Kinder von allem etwas angeboten und es müsste eigentlich gar nichts zusätzlich sein.“ Wenn man als Eltern dann noch eine spezielle Neigung beim Kind feststellt - eine tiefe Liebe zum Element Wasser zum Beispiel -, dann kann es noch ein Schwimmkurs sein. Und fertig. „Für die Kleinen ist ja alles auf dieser Welt neu“, gibt Pauen zu bedenken, „mit denen spaziert man durch die Straße und es prasseln ständig neue Eindrücke auf sie ein. Solange sich die Eltern mit ihnen aktiv beschäftigen, mit ihnen sprechen und sich Zeit nehmen, bekommen Kleinkinder im Prinzip Input genug.“

Verpasste Chancen?


Was den Eltern allerdings oft in die Quere kommt, ist das vorherrschende Dogma der verpassten Chance. Das berühmt-berüchtigte Talente-Zeitfenster, das sich zu schließen droht, wenn man eine Neigung des Kindes nicht früh genug fördert. „Viele Eltern kleiner Kinder denken heute leider immer drei Schritte voraus. Wirklich wichtig ist aber nur der nächste Schritt“, so die Entwicklungspsychologin.

Die elterliche Ungeduld ist tatsächlich ein Problem, das immer wieder allen Beteiligten im Weg steht. Pauen: „Kinder sollen viel probieren können, sicher. Aber man muss sich bewusst sein, dass sich die echten persönlichen Interessen erst um die Pubertät herum verfestigen. Vorher haben die Eltern zwei Herausforderungen: zum einen, den Kindern Angebote zu machen, Neues zu entdecken. Andererseits aber unbedingt auch, abwarten zu können!“ Ergo macht, wie so oft, die Dosis das Gift. Zu viel gefördert ist schnell überfordert. Wo könnte da die magische Grenze sein? Kann ein Zweijähriger schon beurteilen, ob ihm ein Freizeitangebot liegt? „Doch, auch Zweijährige können schon ihre Vorlieben zeigen“, erklärt Pauen. Allerdings spielen da auch andere Faktoren eine Rolle, „oft ist das in dem Alter auch abhängig von Pädagogen, Kursleitern oder einfach gleichaltrigen Freunden, auf die das Kind dort trifft. Es sind eben auch diese Zufälle, die eine Neigung des Kindes mitprägen können.“ Nachsatz: „Wir kennen das ja alle selbst von Lehrern, die ihr Fach so unterrichtet haben, dass sie unser Interesse dafür wecken konnten.“
Und wenn das nicht der Fall ist? Wie schnell ist Aufgeben erlaubt? Dazu meint Pauen: „Die Basis für alles muss immer eine gute, tragfähige Beziehung zum Kind sein. Wenn die vorhanden ist, kann ich als Elternteil bei Durststrecken das Kind auch einmal extra ermutigen oder sogar ermahnen, nicht aufzugeben.“ Immerhin sei man sein Leben lang immer wieder auf Durchhaltevermögen angewiesen, wenn man weiterkommen möchte.

Fazit: Die Grenze zwischen Fördern und Überfordern verläuft nicht immer nach dem Lehrbuch. Doch Geduld und Langmut seitens der Eltern schaden sicher nicht.
So wie bei der vierjährigen Amelie. Bei der Kleinkind-Tennisstunde eine Woche später war sie wieder da, bewaffnet mit ihrem Racket. Und diesmal war sie mittendrin statt nur dabei!

Serie, Teil 4 Motivation statt Leistungsdruck, fördern statt überfordern: was der Nachwuchs braucht - und worauf ehrgeizige Eltern verzichten sollten. Ein Leitfaden zur Stärkung von Talenten.