Es ist eine Partnerschaft auf Lebenszeit. Von Ehegatten kann man sich scheiden lassen, von Lebensabschnittsbegleitern trennen, Freundschaften können sich auflösen - Bruder oder Schwester bleibt man auf ewig. Sie sind immer da. Von Beginn an. Krabbelpartner als Baby, Spielkumpan als Kind, Streitgegner als Teenager, Vertrauensperson im Alter. Es ist ein ganz spezielles Netz, das sich zwischen Geschwistern aufspannt, ein besonderes Kraftfeld mit eigener Psychodynamik, ein permanentes Spannungsfeld. „Geschwisterbeziehungen sind urwüchsiger und spontaner als jede andere Beziehung“, heißt es in einschlägiger Literatur. Ein Blick ins Kinderzimmer bestätigt das. Näher können Zuneigung und Hass, Eintracht und Streit nicht beieinander wohnen. Ähnlicher können sich Freund und Feind nicht sein - immerhin teilen Geschwister rund 50 Prozent ihrer Erbanlagen. Das erleichert zwar das Imitieren als wichtige Spielform des Lernens, die Abgrenzung gegenüber dem Rivalen in der eigenen Familie wird aber umso schwieriger. Konflikte sind angesichts der Konkurrenz vorprogrammiert.

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„Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife - Geschwister können beides“, formulierte es einst der feinsinnige Alltagsbeobachter und Autor Kurt Tucholsky.

Ein Grundmuster im Umgang mit der Welt

Fast drei viertel der österreichischen Kinder wachsen mit einem oder mehreren Geschwistern auf. Diese engen Nachbarn des eigenen Lebens sind die erste soziale (Klein-) Gruppe, in der man sich selbst zurechtfinden muss. Das Verhältnis zur älteren Schwester oder dem jüngeren Bruder (oder umgekehrt) prägt das eigene Selbstbild, Experten sagen, teilweise sogar stärker als die Eltern. „Der Schatz an Gefühlen, Denkmustern und Handlungsstrategien, den wir mit Geschwistern entwickeln, wird zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt“, meint der Psychologe Jürg Frick.

Für die Wissenschaft ist das ein fruchtbarer Boden für alle möglichen Untersuchungen rund um die zentrale Frage „Wie funktioniert Geschwister-Sein?“ So kreierte der österreichische Psychologe Alfred Adler die These, dass die Position, in die ein Kind innerhalb einer Familie geboren wird, Einfluss auf die Persönlichkeit hat. Demnach profitiere das erstgeborene Kind von seiner „Poleposition“ insofern, als es zunächst als Einzelkind die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern habe und besonders umsorgt und gefördert werde. Das habe, so heißt es in mehreren Studien, auch - selbst wenn nur minimalen - Einfluss auf die Intelligenz: Erstgeborene haben einen höheren IQ. Eine streitbare These, die der amerikanische Psychologe Frank Sulloway noch konkretisierte, indem er Erstgeborenen dominantere, wenig verträglichere, aber gewissenhaftere Charakterzüge und mehr Verantwortungsgefühl und Ehrgeiz zuschrieb. Tatsächlich müssen sie Vorbild sein und oft eine Art Lehrmeister-Position einnehmen. „Sie übernehmen eine Tutorfunktion, indem sie ihren Geschwistern die Welt erklären“, bestätigen die Autoren einer Studie der Universität Leipzig.

Sulloways Generalisierung teilen die deutschen Wissenschaftler aber nicht. In Sachen emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit zeige sich kein Zusammenhang mit der Reihenfolge der Geburt, schreiben die Forscher. Auch wenn es schon aus pragmatisch-logischen Gründen keine „Copy-and-Paste“-Funktion in der Erziehung von Geschwistern geben kann.

Das "Sandwichkind"

Auch wenn die Eltern dieselben sind, die Spielsachen vererbt werden und im selben Freundeskreis verkehrt wird: Eine tatsächlich völlig gleichwertige Betreuung aller Kinder gibt es nicht. Dafür fehlt Eltern einfach die Zeit. Und so läuft bei einem zweitgeborenen Kind vieles schon im Routinemodus. Interessant: Eine amerikanische Studie zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, geimpft zu werden, für jedes neue Geschwisterkind um 20 bis 30 Prozent sinkt. Umgekehrt knicken Eltern bei den „Ich will auch“-Forderungen der Jüngeren öfter ein, wo sie beim Älteren noch deutlich strenger waren. Wobei ein drittes Kind als „Nesthäkchen“ tendenziell wieder mehr Zuneigung und Aufmerksamkeit genießen kann als ein sogenanntes „Sandwichkind“ in der Mitte, das weder die Vorteile des Älteren noch des Jüngsten für sich nützen kann.
Es ist für alle Beteiligten eine permanente Gratwanderung. Musterhafte Entwicklungen lassen sich im wirklichen Leben nur schwer bis gar nicht erkennen - auch wenn es Studien gibt, die jüngeren Geschwistern mehr Witz und Rebellenhaftes als Kompensation zur fehlenden Macht zubilligen und mittlere Kinder eher als Diplomaten sehen und ihnen Verhandlungsgeschick und Anpassungsfähigkeit zuschreiben. Auch wenn Mädchen, die unter Schwestern aufwachsen, als besonders feminin gelten und Buben, die unter Brüdern groß werden, als besonders durchsetzungsfähig.

Das Akzeptieren des Andersseins

Tatsächlich tobt unter Geschwistern ein permanenter Wettstreit. Wer ist besser? Wer ist schneller? Wer genießt mehr Aufmerksamkeit der Eltern? Wer mehr Zuneigung? Nicht immer sinnvoll und zuträglich ist es, wenn Eltern diese natürliche Rivalität durch Vergleiche ihrer Kinder untereinander auch noch verstärken, statt ihnen individuelle Standards und Nischen zuzugestehen.
Wobei es auch hier für Eltern keine strammen Verhaltensregeln geben kann. Je nach Charakter können sich Kinder durch den ewigen Wettstreit mit den Geschwistern angespornt fühlen - oder Minderwertigkeitskomplexe entwickeln. Experten raten generell nur, das Akzeptieren des Andersseins als Eltern nicht nur selbst zu pflegen, sondern auch beim Nachwuchs zu fördern. Es ist ein fruchtbares Wechselspiel von Nähe und Distanz: Über eine Differenzierung schafft man jene Vertrautheit innerhalb einer Familie (auch zu Stiefkindern und Halbgeschwistern), die zu einem angstfreien und aufgeschlossenen Grundklima und sozialer Kompetenz führen.

Unbestritten bleibt nämlich die gegenseitige Vorbildfunktion unter Geschwistern. Sie bleiben auch abseits ehrgeizigen Konkurrenzdenkens Maßstab und prägen einander, weil sie die Kontrastfläche zur eigenen Persönlichkeit bilden. Die Charakterbeschreibung des einen fußt im Verhältnis zu Bruder oder Schwester. „Geschwister machen uns zu dem, was wir sind“, fasst Familienforscher Jonathan Caspi das Verhältnis zwischen Brüdern und Schwestern zusammen.