Nach einer aktuellen Studie sollen in Deutschland 100.000 Jugendliche abhängig von sozialen Medien sein. Eltern fragen sich, wann man von Abhängigkeit sprechen kann, was im Verhalten auf eine Sucht hindeutet oder normal ist.

Kurosch Yazdi: Ich glaube, dass diese 100.000 untertrieben sind. Es werden weit mehr sein, wir reden hier von vier bis sechs Prozent der Jugendlichen, die von Internetsucht betroffen sind. Von krankhafter Abhängigkeit kann man sprechen, wenn Jugendliche nachts Computer spielen und tagsüber deshalb keine Leistung mehr bringen oder das Interesse für alles andere verlieren.

In Ihrem neuen Buch „Click und weg“ schreiben Sie, dass wir früher auf Bauernhöfen gelebt haben, dann in Städten. Und bald werden wir im Internet leben. Mit welchen langfristigen Konsequenzen für Teenager?

Ich bin der Meinung, dass Internetsüchte eine ganze Generation nachhaltig schädigen werden. Diese Kinder lernen nicht mehr, die Herausforderungen der realen Welt zu bewältigen. Die Sucht okkupiert psychosoziale Entwicklungsressourcen. Lernregionen im Gehirn, die sich eigentlich dem Erwerb von sozialen, intellektuellen und körperlichen Fertigkeiten widmen sollten, werden davon besetzt. Die Folgen sind nicht nur psychologischer, sondern auch biochemischer Natur. Wesentlich ist, dass Jugendliche besonders schnell ein ausgeprägtes Suchtgedächtnis entwickeln, das nach Dopamin, nach körpereigenen Suchtstoffen wie Endorphin und anderen natürlichen Glücksbringern giert.

Magazin: Erzieht uns, aber bitte richtig!
Magazin: Erzieht uns, aber bitte richtig! © kk

Sind Sie da nicht zu sehr Pessimist? Ihre Prognose dürfte doch nur auf eine Minderheit und nicht auf eine ganze Generation zutreffen, oder?

Derzeit ja, aber was wir definitiv wissen, ist, dass die Anzahl der internetsüchtigen Jugendlichen im Steigen ist. Wir wissen nicht, wo das enden wird.

Sie sagen, Sucht sei insgesamt kein Nischenphänomen mehr, sondern eine Volkskrankheit wie Diabetes. Welche Kinder und Jugendlichen würden Sie als besonders gefährdet für Internetsucht bezeichnen?

Jene, die in der realen Welt nicht genug positives Feedback bekommen. Sie suchen sich in einer virtuellen Welt ihre Beziehungen und stabilisieren damit scheinbar ihren Selbstwert.

Hinter jeder Sucht steht die Suche nach Beziehung?

Wir Menschen sind Rudeltiere, also Beziehungswesen. Und wenn unser Bedürfnis nach Beziehung nicht ausreichend gestillt wird, können wir uns in Suchtmittel oder Verhaltenssüchte verrennen.

Sucht ist also kein bizarres Phänomen von Außenseitern, die Veranlagung schlummert in jedem Menschen?

In jedem Gehirn steckt das Belohnungssystem, das uns motiviert, nach Glück zu streben. Eine Suchterkrankung ist nichts anderes als eine übertriebene Suche nach Glück. Jeder Mensch ist somit auch potenziell gefährdet. Ein Grund für die steile Karriere der Sucht sind die Verhaltenssüchte, die schwer zu fassen sind und im Gegensatz zu Substanzsüchtigen nichts Verbotenes haben.

Kurosch Yazdi ist Psychiater und Psychotherapeut
Kurosch Yazdi ist Psychiater und Psychotherapeut © KK

Wann sprechen Sie von Verhaltenssucht? Wenn jemand alle zehn Minuten auf sein Handy starrt?

Man kann eine Suchterkrankung nicht nur an einem Zeichen festmachen, sondern es geht darum, dass ein normales Leben verunmöglicht wird, man verliert die soziale Funktionsfähigkeit. Gerade Jugendliche tun sich schwer, sich selbst Grenzen zu setzen. Somit sind sie noch stärker suchtgefährdet als Erwachsene und brauchen Unterstützung durch die Familie, die Schule.

Was sagen Sie Eltern, denen es schwerfällt, Grenzen zu ziehen?

Dass sie von Anfang an klar die Spielregel kommunizieren, dass sie über Dauer und Nutzung entscheiden und den Kindern diese Geräte nur borgen. Der Handyvertrag läuft ja auf den Namen der Eltern. Die große Herausforderung ist der permanente Grenzgang bei Verhaltenssüchtigen. Da ist es für die Angehörigen eines Heroin-Junkies eindeutiger. Sie sind mit einem Lebensstil konfrontiert, der von sozialer Ächtung und körperlichem Verfall geprägt ist. Bei Verhaltenssüchten ist die Grenze zwischen normalem Gebrauch und krankhaftem Kontrollverlust nicht immer eindeutig bestimmbar.