Die Köpfe zusammenstecken und gemeinsam mit Freunden abhängen: Das ist die Welt von Jugendlichen. Schulschließungen, Kontaktverbote und Ansteckungsgefahr haben aber massive Einschnitte im Lebensalltag der Jugend hinterlassen. „Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Kinder getroffen, die die Schule vermisst haben“, schildert Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger ihre Erfahrungen nach dem Lockdown. Nicht den Lehrbetrieb aber haben die Kinder und Jugendlichen vermisst, sondern ihre Freunde. „Das hat die Kinder und Jugendlichen sehr getroffen.“ Für sie sei der wesentlichste Aspekt des Schullebens nämlich der Umgang mit Gleichaltrigen. „Ein tiefes Bedürfnis“, wie es Leibovici-Mühlberger nennt.

Viele Kinder hätten ihre Rolle in der Schule nach der Wiederaufnahme des Unterrichts brav gespielt, Masken getragen und Abstand gehalten. Vor dem Schultor allerdings, sei das Verhalten nicht immer vernünftig. „Der junge Mensch ist sehr kreativ, und ein Bedürfnis gräbt sich immer seinen Weg“, so die Psychotherapeutin.

Was aber ist es, dass nicht nur die Jugend dazu veranlasst, unvernünftig zu sein, sich außer Sichtweite der Lehrer, in Grüppchen zusammenzutun, sich auf die Schulter zu klopfen oder gar zu umarmen? „Wir alle sind Hautmenschen, von Anbeginn an. "Hautkontakt zu haben, ist ein Grundbedürfnis“, erklärt die Mutter von vier Kindern. Die körperliche Distanz verordnet zu bekommen, sei zwar im Sinne der Eindämmung des Coronavirus vernünftig, dem persönlichen Wohlbefinden allerdings wenig zuträglich.

Dramatische Folgen

„Körperkontakt ist in unserer Biologie verankert“, betont die Ärztin. Wenn wir dieses Bedürfnis nicht befriedigen, drohen teils dramatische Folgen. Depressionen, Sozialphobien, psychosomatische Erkrankungen, sogar unsere Fähigkeit, Glück zu empfinden, hänge von ausreichendem körperlichen Kontakt ab.

Reicht es, Freundschaften virtuell zu pflegen? „Kontakt über soziale Medien kann in der Qualität den persönlichen Kontakt ganz sicher nicht ersetzen“, erklärt die Expertin. Den körperkontaktlosen Umgang als neue Parole zu forcieren, sieht sie nicht als Lösung des Problems und bringt weitere Bedenken ins Spiel: „Wenn wir unseren kleinen Kindern jetzt beibringen, der andere und die Berührung des anderen ist gefährlich, wenn wir diese Haltung sozialisieren, wird eine Generation aufwachsen, die – bevor sie physischen Kontakt akzeptiert – drei Tests braucht.“ Kontaktstörungen wären die Folge.

Warum treffen Distanzgebote Jugendliche besonders schwer? „Freunde sind für sie das Um und Auf, ihre Bezugsebene während sie sich von den Eltern emanzipieren“, so die Expertin. Der persönliche Austausch, die Aufarbeitung von Erlebnissen, die eigene Positionierung brauche einen Raum von Intimität und Vertrautheit, den man nur in der unmittelbaren körperlichen Begegnung habe. Gerade beste Freundschaften würden sich nur dann entwickeln.

Was also tun? Sich selbst der beste Freund sein? „Ein schöner Gedanke, aber wir sind Sozialwesen“, kontert Martina Leibovici-Mühlberger. Man müsse zwar gut auf seine Bedürfnisse schauen, könne aber nicht gleichzeitig sein bestes Gegenüber sein. Zur eigenen Psychohygiene gehöre auch, dass man Freundschaften pflege. Denn: „Wir brauchen den anderen, damit wir uns selbst gut wahrnehmen können.“

Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger
Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger © KK

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