Es war eine dieser Geschichten, die plötzlich auf allen sozialen Medienkanälen auftauchen: Das irische Ehepaar Máire und Gerry Ryan war 65 Jahre verheiratet, sie lebten schon seit einigen Jahren in einem Pflegeheim, da Máire an Demenz litt. Gerry begab sich regelmäßig in ihre Welt und sang mit ihr irische Volkslieder. Es war an einem Montag, als sie beide starben – im Abstand von nur wenigen Stunden, davor hielten sie über ihre beiden Krankenbetten hinweg noch Händchen.

Die lebenslange Liebe bis zum Tod ist nur eines der romantisch aufgeladenen Sehnsuchtsbilder: die Liebe, die entgegen allen Konventionen siegt, die Liebe, die sich nicht um soziale Barrieren schert, die Liebe, der das Schicksal übel mitspielt, die am Ende aber dennoch gelingt – all das ist Stoff, aus dem Liebesmärchen gestrickt sind, die medial verbreitet werden.

Auch in schmutzigen Socken

Doch was ist sie wirklich, die Essenz der Liebe?

„Die Liebe bewährt sich erst in Krisensituationen“, sagt dazu Rotraud Perner, die als Psychoanalytikerin auf ihre Erfahrung aus unzähligen Patientenkontakten zurückgreifen kann und kürzlich das Buch „Lieben“ herausgebracht hat. „Solange alles flutscht, gibt es keine Problematik.“ So merke man die Liebe zum Beispiel im Streit: Es gibt einen Konflikt, doch der führt nicht dazu, dass die Gefühle für den anderen in Rache oder Tyrannei kippen. „Die wahre Liebe ist von allen Verpackungen befreit, man liebt, egal was der andere tut oder nicht tut“, sagt Perner.

Man liebt, egal ob der andere für das abendliche Essen herausgeputzt ist oder in schmutzigen Socken auf der Couch lümmelt. Man liebt, ohne dass man dem anderen seinen Willen aufzwingen will, ohne dass man dem anderen gegenüber übergriffig wird – physisch oder psychisch.

Geistige Zerrbilder

Doch fälschlicherweise werde das Wort Liebe für alle möglichen Gefühle benutzt: Verliebtheit, Begehren, Abhängigkeit oder Narzissmus. „Die wahre Liebe aber“, so Perner, „tritt erst dann hervor, wenn ich selbst nicht bedürftig bin, wenn ich keine anderen Interessen verfolge.“ Der persische Dichter Rumi soll diese Erkenntnis in das folgende Zitat verpackt haben: „Deine Aufgabe ist es nicht, nach Liebe zu suchen, sondern lediglich alle Barrieren in dir selbst zu finden, die du gegen sie aufgebaut hast.“ Selbsterkenntnis als Vorbereitung für die Liebe also – doch wie Perner weiß, nehmen sich viele Menschen nicht die Zeit für diese Selbstreflexion. An deren Stelle treten dann eben jene geistigen Bilder, die Filme oder Romane in uns erzeugt haben. „Wir wollen dieses bestimmte Gefühl haben, das dort gezeigt wird“, sagt Perner.

Rotraud Perner, Psychotherapeutin
Rotraud Perner, Psychotherapeutin © ORF

Doch dabei können wir dieses Gefühl nur selbst erzeugen. „Wenn ich es einmal erlebt habe“, sagt Perner, „brauche ich nur wieder daran zu denken, und das Gefühl ist wieder da.“ Das sei auch eine Taktik für schwierige Situationen in einer Partnerschaft: „Wenn der Partner nervt, denke ich an die schönen Augenblicke in der Vergangenheit und mein ganzer Habitus verändert sich“, sagt Perner.

Liebe muss man lernen

Doch wenn uns Hollywood & Co. die Wahrnehmung verblenden und die Erwartungen an eine romantische Erzählung des eigenen Lebens ins Unerreichbare schrauben – was sind die besseren Vorbilder für die Liebe? Bräuchte es die Liebeserziehung? „So wie alle anderen Dinge, die wir im Laufe des Lebens lernen, braucht auch die Liebe Wahrnehmungs- und Handlungsneuronen im Gehirn“, sagt Perner.

Diese Nervenzellen bilden sich, sobald wir bedingungslos geliebt werden, ohne dass etwas Bestimmtes von uns erwartet wird – eine Erfahrung, die die meisten Menschen als Kind machen und die das ganze Leben erhalten bleibt. Doch es gebe auch andere Möglichkeiten, Liebe zu lernen: durch ein Haustier zum Beispiel oder Emotionen, die große Künstler durch Musik ausdrücken können. „Dabei kommt man in dieses Gefühl, dass einem das Herz aufgeht“, sagt Perner.

Auch wenn es die lebenslange Liebe ist, die uns rührt, so beschreiben andere Experten wie die israelische Soziologin Eva Illouz, dass Zwischenmenschlichkeit heutzutage behandelt werde wie ein kurzlebiges Konsumgut: Partner shoppen via App, und wenn eine Beziehung nicht mehr völlig friktionsfrei läuft, wird sie durch eine neue ersetzt. „Es stimmt, wir leben in einer flüchtigen Gesellschaft“, sagt Perner. Doch auch hier dürfe man die Gefühle nicht verwechseln: Paaren könne man sich oft, doch „ob es wirklich Liebe ist, ob zwei Menschen wirklich gut zusammenpassen, das zeigt sich erst mit der Zeit“. Und dann bestehe die Kunst darin, die richtige Balance zu finden zwischen Hingabe und Bei-sich-Bleiben. Denn: „Liebe hat immer mit Entgrenzung zu tun, man öffnet die eigenen Grenzen und lässt eine andere Person hinein.“

An so Tagen wie heute – es ist Valentinstag –, wie feiert man da die Liebe, wenn man sie gefunden hat? Die Antwort der Psychoanalytikerin: „Der Valentinstag ist eine Gelegenheit, dem Partner zu sagen: Danke, dass du es mit mir aushältst.“