Jeder Erwachsene hat noch gut in Erinnerung, wie mühsam das Schreibenlernen war. Von den ersten gemalten Buchstaben bis hin zur fließenden Schreibschrift, die sauber zwischen zwei Linien Platz haben und zudem leserlich sein soll, war es ein langer Weg. Die Generationen, die bis Mitte der 90er-Jahre die Volksschule besucht haben, lernten noch die schnörkelige Schulschrift: Schönschreibheft und Zierzeile inklusive.

Heute bestimmen Smartphones, Tablets und Computer unseren Alltag, kaum jemand schreibt noch per Hand - abgesehen von kurzen Notizen. Sechsjährige Kinder beherrschen das Wischen auf Handys, aber immer weniger den Dreipunkt-Griff, um einen Stift ordentlich zu halten. Ist in unseren Volksschulen das Kulturgut Schrift in Gefahr?

Aus für die "Schnürlischrift"

Für einen Aufschrei sorgte vor zwei Jahren die Ankündigung Finnlands, die Handschrift aus dem Klassenzimmer zu verbannen. Ganz korrekt wurde die Debatte nicht wiedergegeben. Fakt ist: Seit 2016 sind im Lehrplan nur mehr die Druckschrift und das Tastaturschreiben verankert, den Schulen wird freigestellt, ob sie die Schreibschrift weiter unterrichten. Unter dieser Voraussetzung müssen sich finninsche Lehrer nicht lange mit dem Üben der verbundenen Schrift aufhalten. In der Schweiz ist die „Schnürlischrift“ mit dem derzeit laufenden Schuljahr Geschichte. Die schnörkelige Schrift wurde durch eine Basisschrift ersetzt: Die Kinder lernen eine Druckschrift, die sich dann ab der zweiten Klasse verbinden lässt. Wie oft die Buchstaben verbunden werden, ist nicht vorgeschrieben. Dadurch soll sich bei jedem Schüler ein persönlicher Stil entwickeln. Die Befunde der Lehrer nach der Testphase: Die Kinder schreiben mit der Basisschrift leserlicher als mit der „Schnürlischrift“.

Heftige Debatte in Deutschland

Vor allem in Deutschland wird die Debatte über den Schrifterwerb derzeit heftig geführt. Die Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning beobachtet in unserem Nachbarland, wie sich die Handschrift der Schüler dramatisch verschlechtert. In ihrem Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“ diagnostiziert die Pädagogin ein Versagen der Schulpolitik. Die Handschrift werde in der Schule vernachlässigt, die Leidtragenden seien die Kinder, denn eine krakelige Schrift nehme ihnen die Freude am Arbeiten. Die Kinder der „Generation Klettverschluss“ würden heute eine vereinfachte Ausgangsschrift lernen, die ihrer Ansicht nach eine „Schrift ohne Halt“ sei. Dahinter stecke - wie so oft im Schulbereich - eine ideologische Debatte zwischen Fortschrittsgläubigen und Konservativen: „Üben ist out, Vereinfachung dafür ist in“, so Schulze.

Der deutsche Schreibforscher Christian Marquardt warnt ebenso davor, die Schreibschrift völlig wegzulassen (siehe Interview). Experten sind sich also grundsätzlich einig: Die Handschrift ist wichtig und soll auch weiter gelehrt werden.

Über die Frage, ob Kinder eine verbundene Schreibschrift lernen sollen oder nur die Druckschrift, darüber wird trefflich gestritten. In Österreich wurde die Diskussion über eine moderne Schulschrift bereits vor vielen Jahren geführt. Schreibdidaktiker drängten zu Beginn der 90er-Jahre auf eine Adaptierung der alten Schulschrift von 1969, die durch die vielen Schlingen und Schnörkel geprägt war. Seit dem Schuljahr 1995/1996 wird eine vereinfachte Grundschrift gelehrt (siehe Grafik). Im Lehrplan heißt es: „Buchstaben, Ziffern und Zeichen sollen von den Schülerinnen und Schülern am Ende der zweiten Schulstufe in einer der jeweiligen Vorlage ,angenäherten Form' geschrieben werden können.“

Die neue, vereinfachte Schrift sei leichter lern- und lehrbar, gab das Ministerium damals bekannt. Außerdem würden die vielen Schlingen in späteren Schuljahren und im Erwachsenenalter oft aufgegeben werden. Versucht man sich selbst als älteres Semester in der „neuen“ Schulschrift, dann fällt auf, dass der Stift oftmalig abgesetzt werden muss. Waren die Schlingen dazu da, um ein flüssiges Schreiben zu ermöglichen, so müssen die Kinder heute nach vielen Buchstaben den Stift neu ansetzen. Die Schreibmaterialien haben sich stark verbessert: Ergonomische Stifte und Tintenroller, die nicht auslaufen, vereinfachen das Schreibenlernen. Aber ist es notwendig, die Schrift selbst so zu vereinfachen?

Die Sprachwissenschaftlerin Konstanze Edtstadler, die an der Pädagogischen Hochschule in Graz lehrt, weist darauf hin, dass Schreiben ein hochkomplexer Prozess ist. Ob die Schreibschrift mit oder ohne Schnörkel besser sei, ist im Gesamtprozess nicht entscheidend. „Prinzipiell geht es beim Schriftspracherwerb darum, die kommunikative Form des Schreibens zu erfassen. Die Schülerinnen und Schüler müssen die Phoneme, also die bedeutungsunterscheidenden Laute der Sprache, lernen wahrzunehmen und lernen, diese mit den entsprechenden Buchstaben zu verbinden“, erklärt Edtstadler. Schreiben ist ein vielschichtiger Prozess: „Es geht nicht nur um das Aufschreiben der Buchstaben, sondern unter anderem um die Planung des Inhalts und wie dieser sprachlich ausgedrückt wird. All das passiert gleichzeitig und verlangt den kleinen Schülern viel ab.“ Und: „In Skandinavien beginnen die Kinder teilweise zuerst auf der Tastatur zu schreiben, damit ist der Erstkontakt mit den Buchstaben da, aber eben ohne diese motorische Belastung. Umgekehrt hilft die motorische Aktivität beim Abspeichern der Buchstaben.“ Die Tastatur ermögliche vielen Kindern mit motorischen Schwierigkeiten den Zugang zum Schreiben. Ihr Fazit: Die Kinder sollen trotzdem mit der Hand schreiben. Noch lernen in Österreich alle Kinder die Druck- und die Schreibschrift. Ob das in den nächsten Jahren so bleibt, ist unklar. Bleistift und Füllfeder abzuschreiben wäre aber definitiv zu früh.