Dem Einleitungstext Ihres Buchs zufolge bestehen 43 Prozent des täglichen Verhaltens aus Gewohnheiten. Wie können wir beinahe die Hälfte des Tages damit verbringen ohne, dass es uns auffällt?
Matthias Hammer: Das hat mit der Effizienzstrategie unseres Gehirns zu tun. Es hat die Neigung, alle Wiederholungen, zu automatisieren, so bleiben Kapazitäten für andere Dinge. Zu diesen Gewohnheiten gehören essen, gehen, Fahrrad fahren, Zähne putzen oder duschen.

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Warum ist es so schwer, schlechte Gewohnheiten loszuwerden?
Gewohnheiten werden nicht vorrangig durch Selbstkontrolle bestimmt, sondern häufig durch die Umweltkontrolle. Wenn ein Raucher in eine Situation kommt, wo Freunde rauchen, dann kommt der Impuls, sich auch eine zu gönnen. Äußere Bedingungen lösen häufig den Reflex aus, das macht das Aufhören auch so schwierig. Deswegen ist ein Punkt, wo man Gewohnheiten aushebeln kann, diese auslösenden Reize zu verändern.
Wie geht man bei „Micro Habits“ vor?
Micro Habits setzt an den ganz vielen kleinen Schräubchen von Gewohnheiten an. Zum Beispiel, indem ich die Umweltreize in einer gewissen Weise verändere. Gestern hatte ich ein Gespräch mit einem Menschen, der nach der Arbeit nicht immer vor dem Fernseher versacken will. Er macht sehr gerne Musik. Nun ist ein Mittel, sein Lieblingsinstrument – ein E-Piano – so im Zentrum des Zimmers aufzustellen, dass man gar nicht drumherum kommt, sich ans Piano zu setzen. Man kann aber auch die Verfügbarkeit der Reize, die mit schlechten Gewohnheiten zusammenhängen, verändern – wenn ich zum Beispiel meinen Fernseher immer ausstecke, so dass ich ihn einstecken muss, wenn ich fernsehen will. Wichtig sind Wenn-Dann-Pläne für Rückfälle. Wie will ich mich im Fall eines Rückfalls verhalten? Rückfälle kommen meistens vor, weil es unser Gehirn gelernt hat und unser Gehirn ist sehr schlecht im Verlernen.

Nun fallen Gewohnheiten oft auch in die Kategorie Ecken und Kanten eines Menschen. Hat das auch mit dem Charakter zu tun?
Hier wird in der Psychologie eher unterschieden, es gibt Persönlichkeitseigenschaften, die schon fast so etwas wie eine genetische Komponente haben, beispielsweise ob man intro- oder extrovertiert ist. Und es gibt Verhaltensgewohnheiten. Wenn ich sage: „Ich trinke immer ein bisschen zu viel Alkohol, aber so bin ich halt.“ Mit dieser Definition wird man es nicht verändern können. Man darf Verhaltensgewohnheiten nicht als Wesensmerkmale sehen. Hinter Verhaltensgewohnheiten stecken Entscheidungen.

Können Gewohnheiten in unsicheren Zeiten wie der Coronakrise, ein sicherer Hafen sein?
Auf jeden Fall, Gewohnheiten und Routinen geben Sicherheit und tragen zu einer Stabilität bei. In vielen Staaten hat die Politik es geschafft, das Gewohnheitsverhalten von Millionen Menschen innerhalb kürzester Zeit zu beeinflussen oder zu verhindern – Einkaufsverhalten oder Händeschütteln. Menschen mussten aber auch neue Gewohnheiten bilden.

Haben diese neuen Gewohnheiten nun auch direkte Auswirkungen?
Wir sollten und sollen zum Beispiel, direkten Kontakt meiden, hier ist aber wiederum die Gefahr gegeben, dass andere negative Gewohnheiten verstärkt werden. So haben in der Zeit des Rückzugs Medienkonsum und Suchtverhalten zugenommen, weil es vielen langweilig wurde oder sie einsam waren. Unter dem Blickwinkel von Gewohnheiten ist die Coronapandemie höchstkomplex. Deswegen ist es besonders wichtig für den einzelnen, unter diesen veränderten Bedingungen, Gewohnheiten zu bilden, die zur gesundheitlichen Stabilität beitragen.
Was sagen Sie zum Sprichwort: die Macht der Gewohnheit?
Absolut. Das gilt in vielerlei Hinsicht. Ganz viele Zivilisationskrankheiten und psychische Erkrankungen sind durch Gewohnheiten geprägt. Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes zum Beispiel, weil sie auch etwas mit Ernährung und Bewegungsmangel zu tun haben. Auch Dinge wie Erfolg, Kompetenz und psychische Stabilität werden ebenfalls durch Gewohnheiten geprägt. Auch Sucht ist Gewohnheitsverhalten. Man kann Gewohnheiten also gar nicht hoch genug einschätzen, auch wenn man diese ökologischen Themen mit hineinnimmt. Viel betrifft hier unsere Gewohnheiten – Ernährung, Benützung von Verkehrsmitteln, Reisen.