Eltern klagen zunehmend unter Überlastung durch den Heimunterricht ihrer Kinder. Verstehen Sie das?
NIKI GLATTAUER: Ich sitze gerade mit meinem Sohn bei der Hausübung und wir versuchen zu verstehen, wie die Lehrerin will, dass wir antworten. Ja, ich verstehe das Wehklagen.

Woran liegt das?
Ich stelle als Elternteil, aber auch Leiter eines Lehrkörpers fest, dass manche Lehrer es teilweise „zu gut“ meinen und fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nicht noch Zusatzaufgaben verteilen. Da müssen wir aufpassen. Ich sehe es an meinen eigenen Kindern. Die sind 11 und 17 Jahre und mit Arbeit ausgelastet, ja fast überlastet.

Worin liegt der Unterschied zwischen Unterricht in der Klasse und am Küchentisch?
In der Schule gibt es eine Einführung, ich sehe als Lehrer, wie die einzelnen Schüler reagieren, kann erklären. Das ist ein eingespielter Modus, wie man mit neuem Stoff umgeht. Jetzt gibt es Homeschooling in der Hardcore-Version. Die Lehrer hatten nicht die Chance, den Schülern dafür das notwendige Rüstzeug mitzugeben. Jeder benutzt jetzt eine andere Methode der Stofferarbeitung. Am Ende gibt es sieben verschiedene Plattformen mit sieben verschiedenen Modi. Das gehört vereinheitlicht. Man kann von Eltern nicht verlangen, dass sie das ausgleichen.

Droht dadurch die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten weiter aufzugehen?
Ja. Es gibt technikaffine Eltern, die vielleicht auch eine berufliche Erfahrung im Umgang mit der Technik haben. Die sind klar im Vorteil. Es gibt aber auch – und das ist die Mehrzahl – jene, die keine Ahnung haben. Da entsteht eine Schieflage. Digitalisierung bedeutet unter den aktuellen Umständen, dass sich die Zwei-Klassen-Gesellschaft noch weiter verschärft.

Der Minister gab als Leitlinie die Vertiefung von bestehendem und nicht das Erarbeiten von neuen Stoffgebieten an. War das sinnvoll?
Es war goldrichtig, weil es die einzige Chance war, dass die Guten nicht noch weiter davongaloppieren und die Bildungsfernen oder Benachteiligten hoffnungslos zurückfallen.

Es steht im Raum, dass es zu einer Verlängerung des Status quo kommen könnte. Muss dann die Methodik auf Stofferwerb umgestellt werden?
Das würde nicht funktionieren, weil es ein Rückschritt zum klassischen, stakkatoartigen Frontalunterricht wäre. Jene, die schwach sind oder eine Schwäche bei dieser Form der Wissensaneignung haben, würden sich zurückziehen.

"Wir Lehrer überschätzen uns"

Also keinen neuen Stoff durchnehmen?
Nein, das muss jetzt nicht sein. Die Kinder wären dann vielleicht sechs bis acht Wochen nicht wie gewohnt beschult. Ich glaube nicht, dass sie damit für den Rest ihres Lebens lebensunfähig sind. Da überschätzen wir uns als Lehrer, wenn wir glauben, so ein Zustand wäre gefährlich.

Droht demnach keine „verlorene Generation“?
Nein. Was jetzt wichtig ist, ist, den Kindern zu zeigen, wie Zusammenhalt funktioniert, wie man Krisen löst. Das ist mehr wert, als wenn ein Viertel des Lehrplans nicht erfüllt wird.

Eine echte Lebensreifeprüfung.
Genau. Und was die Matura an sich betrifft, bin ich dafür, dass man sie einfach aussetzt. Die Schüler sind in der 12., manche in der 13. Schulstufe – sie haben bewiesen, dass sie reif sind.

Keine Abschlussprüfung?
Nein. Sie sollen ihre Matura bekommen, eben ohne Prüfung. Das Abschlusszeugnis muss reichen. Die unnötige Zentralmatura soll man unter diesen grotesken Umständen einfach weglassen. Und wenn man dann schon dabei ist, sollte man dieses System auch in der Post-Corona-Zeit so fortsetzen.