Von einem Tag auf den anderen blieb der Sessel im Büro unbesetzt. Die Kollegin erschien nicht. Heute nicht. Morgen nicht. Die nächsten Wochen nicht. Aus Mangel an Offiziellem machten erste Vermutungen, der Humus von Gerüchten, die Runde. Begleitet von Verwunderung. „Ausgerechnet sie ...“, „Nie etwas gemerkt ...“, „Nie gesagt, dass es ihr schlecht ging ...“, „War doch immer so fröhlich ...“, „Immer so hilfsbereit ...“ Und vor allem: „so fleißig ...“ - Ein Vorbild. Eine Heldin unserer Zeit. Oder?

Was macht Fleiß mit einem? Welchen Preis hat diese als Tugend etikettierte Einsatzbereitschaft? Bringt er einem tatsächlich nur Anerkennung, Aufstiegschancen und Bonuszahlungen - oder einen auch irgendwann um (oder einem zumindest eine gestanzte Burnout-Diagnose)? Statistiken und Umfragen sprechen eine deutliche Sprache: Das Gefühl, wachsenden Ansprüchen, größer werdendem Stress und zunehmendem Druck ausgesetzt zu sein, wächst ebenso beständig wie die Zahl tatsächlicher Burnout-Fälle. Sind das alles Kollateralschäden unserer Leistungsgesellschaft?

Leistung oder Fleiß ...

In dieser Fragestellung liegt, so meinen Experten, ein Teil des Problems. Es werde nämlich, so deren Begründung, der Unterschied zwischen Leistung und Fleiß verwischt, vielleicht sogar verwechselt. Während bei der Beurteilung von Leistung noch Qualitätsansprüche und -kriterien zur Anwendung kommen, orientiert sich der Fleiß eher an quantitativen Maßstäben. Dazu kommt der sinnstiftende Aspekt des Tuns. Leistung lohnt sich, weil sie der Arbeit Sinn und Zweck liefert.

... wo liegt der Unterschied?

Fleißig zu sein, bedeutet längst nicht automatisch, etwas auch besonders gut gemacht zu haben, sondern nur eifrig, beflissen und emsig. Vielleicht liegt die Ursache für die blühende Burnout-Verbreitung und das ihr innewohnende Unbehagen im Gefühl, nicht in einer Leistungsgesellschaft zu leben, in der die Menschen für das, was sie tun, brennen, sondern in einer Fleißgesellschaft, in der nur wichtig ist, immer mehr zu tun, und die Menschen dabei ausbrennen. Ofen aus. Damit ist Burnout keine klassische Krankheit, sondern ein sozial akzeptiertes Kulturphänomen unserer Aufmerksamkeitsgesellschaft - zur Perfektion getrieben in Japan, wo es „Karoshi“ heißt und den Tod durch Überarbeitung beschreibt.Dass sich das nicht ausgeht, ist nicht neu. „Nur wer etwas leistet, kann sich etwas leisten“ - dieser Ausspruch stammt nicht von einem Apologeten des schrankenlosen Neoliberalismus, sondern von Michail Gorbatschow. Der war zwar - je nach ideologischer Interpretation - Totengräber oder Öffner der ehemaligen Sowjetunion, aber doch in einem kommunistischen System sozialisiert, in dem Fleiß zwar als oberste Tugend der Arbeiterklasse galt, das „Sich-etwas-leisten-Können“ aber ein unerfülltes Heilsversprechen blieb. Die Folgen füllen heute Geschichtsbücher.

Fleiß als Fluchtweg des Versagers?

Im Lebensgefühl von heute zeichnen sich ähnliche Kollaps-Szenarien ab. Einsatzbereitschaft wird gefordert und gefördert, bei den so Geforderten und Geförderten bleibt aber das ungemütliche Gefühl zurück, dass sich ihr Fleiß nicht wirklich auszahlt. Es ist ein Mix aus einem undifferenzierten Leistungsbegriff, falschen Idealen, verquerem Verantwortungsbewusstsein und einem überholten Arbeitsbegriff, der den Fleiß in ein schales, gestriges Licht rückt. Zu Unrecht. Gerade in einer Zeit, in der ein Begriff wie „Industrie 4.0“ zum Paradigma der Arbeitswelt erhoben wird, leitet sich das Wort Industrie doch vom lateinischen „industria“ ab, was so viel wie „eifrige Tätigkeit, Fleiß, Betriebsamkeit“ bedeutet. Ist Fleiß also doch mehr als nur die „letzte Zuflucht des Versagers“, wie es Oscar Wilde polemisch spitz formulierte? Natürlich braucht es den Fleiß - er ist zusammen mit Ausdauer, Motivation und Intelligenz wesentlicher Faktor von Leistung. Auch weil man mit Fleiß Mängel kompensieren kann. Ausdauer und Beharrlichkeit beim Verfolgen von Zielen kann Startnachteile bei IQ und familiärem Hintergrund wettmachen. „Darum ist es so bedeutsam, jungen Menschen in Schulen die Fähigkeit zu Geduld beizubringen“, sagt Matthias Sutter. Der gebürtige Österreicher ist Direktor und wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern Bonn.

Belohnung stumpft sich ab

Es reicht also nicht, hochintelligent zu sein, wenn man faul und demotiviert ist. Vielleicht geht es aber darum, dem Fleißigsein wieder eine Genusskomponente einzuimpfen, Belohnungen in Aussicht zu stellen, die größer sind als Ergebnisse, die man erwartet, wenn man so weitermacht wie bisher. Denn Fleiß und Motivation, so Gerhard Roth, Professor am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen in einem Interview, haben primär nicht mit dem Arbeitsgedächtnis zu tun, sondern mit den limbischen Zentren im Gehirn, dem Belohnungssystem. Diese Zentren beeinflussen über Stoffe wie Dopamin, dass sich Fleiß am Ende des Tages gut anfühlt und sich der Einsatz ausgezahlt hat.

So kann Fleiß die Selbstmotivation anfeuern. Wobei es für den Weg zum Glück unterschiedliche Navigationsmuster gibt. Willensstarke Menschen reichen große, langfristige Ziele ohne konkrete Belohnung, der breiten Masse aber empfiehlt Roth das Modell kleiner Zwischenschritte, die es zu erreichen gilt und für deren Erreichen man sich belohnt, um das Feuer des Fleißes am Lodern zu halten. Das Problem dabei: Belohnung stumpft sich ab, „erschöpft sich bei ihrer Wiederholung“, warnt Roth. Man müsse sich also immer etwas Neues einfallen lassen. „Zudem ist eine erwartete Belohnung nur eine halbe Belohnung. Es muss einen Überraschungseffekt geben.“ Und was „Belohner“ wie Eltern oder Vorgesetzte beachten müssen: Die Belohnung muss von der Person, die sie empfängt, als verdient empfunden werden. Übertreibung schadet ebenso wie ein zu geiziges Lob.

Arbeiten wir zu viel?

Die richtige Dosierung zu finden, ist nicht einfach in einer Welt, in der - nicht immer ganz faktengestützt - immer lauter über Mehrbelastungen geklagt wird. Denn glaubt man historischen Statistiken, waren wir früher fleißiger und arbeiten immer weniger. So lag Mitte des 19. Jahrhunderts die Durchschnittsarbeitszeit bei 82 Wochenstunden, um 1900 bei 60 Stunden. Mit Erstarken der Gewerkschaften sank sie kontinuierlich auf 48 Wochenstunden und heute auf unter 40. Ähnliche Tendenzen zeigen Studien der Agenda Austria, wenn es um aktuelle europaweite Vergleiche von Arbeitszeiten geht: Österreich liegt da zwar nicht am „faulen Ende“, aber und trotz heiß diskutiertem 12-Stunden-Tag auch längst nicht im Spitzenfeld. „Mit einer maximal zulässigen Arbeitszeit von 12 Stunden pro Tag läge Österreich im EU-Schnitt und würde zu anderen Ländern aufschließen“, heißt es in der Untersuchung der unabhängigen Denkfabrik.

Hunger nach Anerkennung

Aber das verschwimmt im subjektiven Empfinden der Wirklichkeit, in der der Stress zunimmt und alle überall Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung fordern. Der Hunger nach „gefällt mir“, Daumen hoch, Smiley-Emojis und Applaus wird auf sämtlichen analogen und vor allem virtuellen Social-Media-Bühnen immer größer. Und der Fleiß, möglichst viele Klicks zu generieren, scheint grenzenlos. Diesem seltsamen und selbst auferlegten Druck zu widerstehen, wird sich vielleicht bald als begehrenswerte Verhaltensweise in den Tugendkatalog der Gesellschaft einschleichen. Gleich neben dem Fleiß.