Seit meiner Kindheit träume ich davon, den Nordpol zu erreichen, nun stehe ich auf dem Südpol“, schrieb der norwegische Polarforscher Roald Amundsen in sein Tagebuch. Vielleicht nicht in dieser Tragweite, aber im übertragenen Sinne können sich viele ins Schicksal des Entdeckers hineinversetzen. Am ganz anderen Ende des inneren Kompasses angekommen zu sein, ist ein Geständnis, das man nicht jedem anvertraut - nur einem engen Vertrauten, wie es ein Tagebuch sein kann. (Fastentagebuch der Kleine Zeitung-Redakteurinnen)

Ein Tagebuch zu führen, mag auf den ersten Blick altmodisch klingen, es bietet aber auch in Zeiten digitaler Helferleins seine Vorteile, ein Stück Papier zwischen sich und seine Gefühle zu bringen. „Tagebuchschreiben hilft dabei, den vergangenen Tag noch einmal gedanklich zu durchleben. Dabei fallen einem meistens eher Situationen ein, in denen man stärkere Gefühle empfunden hat“, weiß die Klinische Psychologin Doris Wolf. Man schreibe sich die Ereignisse des Tages quasi „von der Seele“. Unterhält man sich mit eifrigen Tagebuchverfassern, kehren die Redewendungen wie „sich von etwas frei schreiben“ oder „von einer Last befreien“ wieder. So kann das Tagebuch beim regelmäßigen emotionalen Kassasturz helfen, aber auch Ordnung in ein etwaiges Gefühlschaos bringen. Aus einzelnen Erfahrungen und Erlebnissen entsteht eine durchgehende Geschichte, aus der man Schlüsse ziehen, aber die Geschichte der eigenen Veränderung nachlesen kann. Außerdem ist es schön und durchaus unterhaltsam, Erinnerungen zu speichern, die ansonsten verloren gingen. Zum Beispiel: erste Liebesgeständnisse, die vor Romantik - und auch Rechtschreibfehlern - nur so triefen.

Expertin Doris Wolf rät jedenfalls grundsätzlich schreibaffinen Personen dazu, ein Tagebuch zu führen. Jene, die zum Grübeln neigen, sollten dies jedoch nicht ohne professionelle, psychologische Unterstützung tun - „sie könnten ansonsten in ihren negativen Gedankenspiralen hängen bleiben“. Allgemein sollte man deshalb auch darauf achten, Tagebucheinträge mit angenehmen Erlebnissen zu schließen, um „Problemdenken“ zu verhindern, so Wolf.

Hilft dabei, Probleme mit Abstand zu betrachten

Ein Tagebuch kann aber auch helfen, Probleme objektiver und mit gehörigem Abstand zu betrachten. „Wenn man sich beispielsweise in ständigen Konflikten mit jemandem befindet, wäre es günstig, Situationen auch aus dem Blickwinkel der anderen Person zu beschreiben. Das kann zu einem besseren Verständnis der Situation und zu neuen Einsichten führen“, so die Expertin.

Der Amerikaner James Pennebaker entdeckte in den 1980er-Jahren das therapeutische Potenzial des „expressiven Schreibens“, bei dem Menschen Traumatisches in Worte fassen. In Studien teilte er Studenten in zwei Gruppen, die an vier Tagen für jeweils 15 bis 20 Minuten Tagebuch führen sollten. Eine Gruppe sollte über Alltägliches schreiben, die zweite über Dinge, die ihnen Kummer bereiteten. Die Teilnehmer wurden auch in der Zeit danach beobachtet. Es zeigte sich, dass jene, die über Traumatisches geschrieben hatten, im Schnitt um 43 Prozent weniger zum Arzt gingen als die Kontrollgruppe. Auch Blutdruck und Stresslevel waren bei der „emotionalen“ Gruppe geringer.

Expressives Schreiben kann Heilung in Gang setzen