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Bücherbeilage

Bitte lächeln!

Sie können ein bezaubernder Spaß sein, uns das Fürchten lehren und in jedem Fall das Wissen und den Horizont erweitern. Welche Bücher Sie in diesem Herbst lesen sollten.

Inhaltsverzeichnis

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Editorial

Lesend um die Welt

Weiterschreiben!“ So lautete ein zum Klassiker gewordenes Kommando von Marcel Reich-Ranicki. Mitunter klang die Ermunterung recht merkwürdig. Denn nicht selten galt sie jungen Autoren und Autorinnen, deren Werk er zuvor gnadenlos zerlegt hatte. Ein reichlich verstörendes Verhalten also.

Wir glauben schlicht an die Wichtigkeit des Weiterschreibens, mit Verrissen haben wir speziell in dieser Literaturbeilage rein gar nichts im Sinn. Präsentiert werden durchwegs Werke, die wir in diesem Bücherherbst für besonders bedeutsam halten und denen wir entsprechend viele Leserinnen und Leser wünschen. Klar ist, dass diese Auswahl dennoch subjektiv erfolgt und ebenso klar ist, dass ihr keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit gebührt. Aber eigentlich ist dies auch durchaus erfreulich, denn es belegt, wie vielseitig und reichhaltig das Angebot an erstklassigem Lesestoff quer durch alle Genres ist. „Lesend um die Welt“, das war ein Anliegen, das gleich auf dieser Seite mit Büchertipps von Autorinnen und Autoren aus Georgien, dem Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, beginnt.

Und wenn es noch so abgedroschen klingen mag, es stimmt, wir stehen dazu: Bücher sind und bleiben Reisen und Abenteuer im Kopf. Also eine Bitte: Weiterlesen!

Requiem für die Lebenden

Georgien ist das Gastland bei der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt. Der „Balkon Europas“ ist geprägt von politischer Gewalt und einem reichenkulturellen Erbe.Von Ute Baumhackl

Requiemfür die Lebenden
Armut als Teil des Alltags: Kinder verkaufen in den Banni- Dörfern im Norden von Gujarat Kunsthandwerk an // Bildcopyright: Picturedesk

Er hat Georgien nie verlassen. Und doch hat er, erzählt die Direktorin der Georgischen Nationalgalerie Eka Kiknadze, „ganz intuitiv an die europäischen Entwicklungen in der Kunst angedockt“. 100 Jahre nach seinem Tod hat sich nun die Blickrichtung umgekehrt, entdeckt Europa den georgischen Maler Niko Pirosmani (1862–1918), einen Autodidakten, dessen naiv anmutende Bilder von Wildtieren und rustikalem Alltag ihn mittlerweile als Wegbereiter der russischen Avantgarde ausweisen. Am 26. Oktober eröffnet in der Wiener Albertina eine große Retrospektive des Künstlers, danach wandert die Ausstellung weiter in die Van-Gogh-Stiftung im französischen Arles.

Pirosmani ist nur ein Kulminationspunkt in Europas aktuellem Interesse an Georgien. Der georgischen Architektur etwa ist seit Mittwoch eine Ausstellung im Wiener Ringturm gewidmet, der nationalen Literatur verschaffte die Kür zum Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse einen enormen Aufmerksamkeitsschub. 180 Neuübersetzungen ins Deutsche gab es aus diesem Anlass und rund 70 Autoren reisten an, um vor den knapp 300.000 Besuchern der Messe ihr Land zu vertreten – „in seiner ganzen Brüchigkeit und seinen ganzen Widersprüchen“, so formulierte es Star-Autorin Nino Haratischwili („Das achte Leben“, „Die Katze und der General“).

Dass es Georgiens Autoren in ihrem Land nicht unbedingt leicht haben, klingt in Haratischwilis Satz zumindest an: Romancier Zaza Burchuladze, der in Werken wie „Der aufblasbare Engel“ Politik und Gesellschaft satirisch auf die Schaufel nahm, wurde 2014 von religiösen Extremisten bedrängt und auf der Straße zusammengeschlagen. Er lebt inzwischen in Berlin. Der Lyriker Zviad Ratiani („Requiem für die Lebenden“) wurde im Dezember letzten Jahres in der Hauptstadt Tiflis von der Polizei körperlich drangsaliert. Dass man ihn wegen seiner orangen Jacke für schwul hielt, soll dafür den Ausschlag gegeben haben. Ab Ende Oktober kommt Ratiani nun für ein Jahr nach Graz, die Stadt unterstützt verfolgte Autoren mit ihrem Programm „Writer in Exile“.

An Georgiens Selbstwahrnehmung als „Balkon Europas“ ändern politische Gewalt und homophobe Entladungen freilich nichts. Der eurasische Staat, zwischen Russland und der Türkei, zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer gelegen, sieht sich seit jeher als Brückenkopf abendländischer Kultur in der Region. Seit 1991 ist das Land unabhängig, der letzte Krieg mit Russland erst zehn Jahre her. Seither besetzen Putins Truppen Abchasien und Südossetien, nur unbehagliche 100 Kilometer von Tiflis entfernt. 26 Mal soll die Hauptstadt, die auf Georgisch Tbilissi heißt, seit ihrer Gründung schon überrannt worden sein, Araber, Perser, Byzantiner, Seldschuken, Osmanen hinterließen ihre Spuren, aber entlang der prachtvollen, von Platanen gesäumten Boulevards sieht man heute vor allem Bauten im Stil von Barock bis Brutalismus, von Jugendstil bis Hochzeitstorte. Und auf dem zentralen Freiheitsplatz glänzt eine riesige Goldstatue des Heiligen Georg: Nachfolger des entsorgten Lenin. Stalin, der bekannteste (und für erstaunlich viele noch immer größte) Sohn des Landes, ziert als Dekomännchen immerhin noch Souvenir-Schnapsflaschen. Die gibt’s aber in der gentrifizierten Altstadt nicht zu kaufen, dort reiht sich eine schicke Weinbar an die nächste, und Georgiens Wein, traditionell in Tonkrügen vergoren, entwickelt sich gerade zum Exportschlager. Das ist nur würdig und recht so, immerhin ist in Georgien der Weinbau erfunden worden, beteuern die Georgier.

Und tatsächlich: In den Gassen von Tbilissi kriechen knorrige alte Weinstöcke sogar aus den Gehsteigen, eventuell zur Stütze der noch unrenovierten rissigen Häuschen, an denen schwere Holzbalkone wackeln. Davor sitzen alte Damen und verkaufen Kräuter, lösen alte Herren per Secondhand-Verkauf ihre Bibliotheken auf. Dass die einzigartigen georgischen Schriftzeichen, die sich über die abgegriffenen Buchdeckel ringeln, wie junge Weinranken aussehen, kommt einem zumindest hier nicht zufällig vor.

Buchtipps von Werner Krause

Der ehrenwerte Klassiker

Der ehrenwerte Klassiker Ein Klassiker, der als populärstes Buch in Georgien gilt: Guram Dotschanaschwili schuf mit „Das erste Gewand“ eine Mischung aus Mythen, Gleichnissen und Liebeserklärungen an die phantastische Erzählkunst

Guram Dotschwanaschwili. Das erste Gewand. Hanser, 696 Seiten, 32,90 Euro.

Die Wegbereiterin

Die Wegbereiterin An Nino Haratischwili führt im Bereich der georgischen Litera-tur kein Weg vorbei. „Die Katze und der General“ beleuchtet den Zusammenbruch der Sow- jetunion und den Bürgerkrieg in Tschetschenien.

Nino Haratischwili. Die Katze und der General. Frankfurter Verlagsanstalt, 750 Seiten, 30,90 Euro.

Der Staatsfeind

Der Staatsfeind Zaza Burchuladze ist das Enfant terrible. 2014 musste er Georgien verlassen, 98 Prozent der Literatur seiner Heimat hält er für Mist. „Der aufblasbare Engel“ ist eine höhnische Politsatire. Zaza Burchuladze ist das Enfant terrible. 2014 musste er Georgien verlassen, 98 Prozent der Literatur seiner Heimat hält er für Mist. „Der aufblasbare Engel“ ist eine höhnische Politsatire.

Zaza Burchuladze. Der aufblasbare Engel. Blumenbär, 192 Seiten, 20,60 Euro.

Der Monumentalist

Der Monumentalist Eine kühne, unbändige Collage aus Liebesgeschichten, Märchen, aber auch etlichen E-Mails und seltsamen Flaschenpostsendungen liefert Aka Mortschiladse in seinem Opus magnum.

Aka Mortschiladse. Santa Esperanza. Mitteldeutscher Verlag, 760 Seiten , 39 Euro.

Die Hoffnungsträgerin

Die Hoffnungsträgerin Ein grandioses Debüt liefert Iunona Guruli mit ihrem Erzählband, reich an Emotionen aller Art. Verschimmelte Träume liefere sie, sagt die Autorin. Manchmal lügt sie halt.

Iunona Guruli. Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird. btb, 224 Seiten, 20,80 Euro.
Mein Spezialtipp von Marianne Fischer

Christine Lavant Einsamkeit, Vergänglichkeit, religiös-mystische Themen oder Alltagsszenen: Christine Lavants Literatur ist vielschichtig und von existenzieller Wucht, aber auch Humor und Sinnlichkeit sind zu finden. Die wunderbare vierbändige Ausgabe mit Erzählungen und Gedichten zeigt neue Seiten der Kärntner Autorin auf. Schonungslos erzählt sie von Außenseitertum und Armut, aber auch von weiblichem Begehren und der befreienden Kraft der Fantasie. Kenntnisreiche Nachworte und biografische Dokumente ergänzen das Lesevergnügen.

Christine Lavant. Werke in vier Bänden. Wallstein-Verlag, pro Band 39,90 Euro.
Mein Spezialtipp von Werner Krause

Georges Simenon Wer den Namen Georges Simenon hört, denkt zumeist an seine Maigret-Romane. 75 Krimis schrieb er, aber er verfasste auch etliche weitere Werke, denen bis heute die gebührende Beachtung verwehrt blieb. Und noch etwas ist prägend für diesen großartigen Autor. Sein luxuriöses Leben gab viele Rätsel auf. In einem einzigartigen Großprojekt bringen die Verlage Dumont und Kampa sämtliche Simenon-Werke in Neuübersetzung heraus, den Auftakt bilden seine „Intimen Memoiren“, spannend wie jeder Krimi von ihm.

Georges Simenon. Intime Memoiren. Hoffmann und Campe, 1371 Seiten, 59,70 Euro.

Die Zäsur seines Lebens

Die Zäsur seines Lebens Es gab viele Zäsuren im Leben von Bob Dylan, aber die Jahre 1964/65 waren besonders einschneidend. Damals vollzog sich der dramatische Wandel vom (akustischen) Folk-Wunderkind zum (elektrischen) Rockmusiker. Daniel Kramer hat mit ikonenhaften Fotografien diesen Bruch, der die Musikwelt veränderte, nachgezeichnet.

Daniel Kramer. Bob Dylan. A Year and A Day. Taschen, 280 S., 50 Euro.
Die Zäsur seines Lebens

Ein "undichter" Mann in Nöten

Tim Parks schuf einen Roman, in dem viel gelitten und noch mehr gepinkelt wird.Von Bernd Melichar

Ein Die Männer in den Büchern des britischen Autors Tim Parks kommen nicht immer gut weg. Sie leiden viel und sie haben es gerne, wenn man ihnen dabei zuhört. Das macht diese Typen nicht unbedingt sympathisch, aber umso authentischer. Und vor allem: Die große, gelassene Schreibkunst von Parks tröstet gut über die kleinen Wehwehchen seines Personals hinweg. Besser noch: Wo sich große Seelenwunden auftun, bringt ohnehin nur noch das Wunder Sprache Linderung.

Auch diesmal lässt der in Manchester geborene, aber schon lange in Italien lebende Autor seinen „Helden“ durch das Alltagsjammertal namens Leben streunen. Gleich zu Beginn des Buches weiß man nicht, ob man weinen oder lachen soll über dieses verschwommene Mannsbild: ein gebeutelter Ü-50er, der überlegt, ob er den Leichnam seiner Mutter „besichtigen“ soll oder doch lieber erzählen von der (therapeutischen) Analmassage, der er sich gerade unterzogen hat und die ihm gar nicht guttat. Nichts tut diesem ungläubigen Thomas gut. Er ist „undicht“ auf vielen Ebenen, muss ständig pinkeln, taumelt zwischen Ex-Frau und Noch-Freundin hin und her und verflucht die Familie als Last, von der er sich nicht befreien möchte. Ein Mann mit vielen Eigenschaften, eine herausragende ist freilich nicht darunter. Der Buchtitel führt übrigens in die Irre. Nicht um Extremes geht es, sondern um das Erdulden des Normalen. Und das ist bekanntlich extrem mühsam.

Tim Parks. In Extremis. Kunstmann, 448 Seiten, 24,70 Euro.

Als Pearl die Fassung verlor

Jennifer Clement schießt in ihrem neuen Roman scharf und zielt dabei auf die USA. Von Bernd Melichar

Als Pearl die Fassung verlor Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen.“ Ein erster Satz wie ein aufgesetzter Bauchschuss. Die US-Autorin Jennifer Clement, bekannt geworden durch ein Buch über gestohlene Mädchen in Mexiko („Gebete für die Vermissten“), macht auch in ihrem neuen Roman keine Gefangenen. Doch obwohl sie die (Schreib-)Waffe ständig im Anschlag hat, muss sie bei jedem Schuss die Tränen wegblinzeln. Gewalt ist das Generalthema von Clement, doch tiefes Mitgefühl ihre unumstößliche Haltung. Daraus entsteht ein Spannungsfeld zwischen Irrsinn und Zauber. Wäre dieses Buch ein Lied, würde es „Weeping Song“ heißen und Nick Cave sich dazu das Herz herausreißen.

Die Story: Seit 14 Jahren lebt Pearl mit ihrer Mutter auf einem Trailerpark im Nirgendwo der USA. Ihr Heim ist ein Ford Mercury, ihr Halt das gegenseitige Träumen. Warum die Mutter von zu Hause wegging, erfährt man nur in kleinen Dosen, die ganze Wahrheit wäre wohl zu toxisch. Mutter und Tochter richten sich im Wenig ein. Doch dann kommt Eli: ein schöner Mann mit vielen Versprechungen und noch mehr Pistolen. Pearl verliert die Mutter, dann die Fassung, letztendlich den Halt. Im Kleinen zeichnet die Autorin ein dunkelgraues Zustandsbild des Großen. Das mündet in eine leidenschaftliche Entrüstung über eine Nation, die aufrüstet und abhalftert. Es war einmal in Amerika? Nein, es ist in Amerika!

Jennifer Clement. Gun Love. Suhrkamp, 251 S., 22,70 Euro.
Mein Spezialtipp von Susanne Rakowitz

Faber, Ruelfs, Vukovic. Sie hatte alle vor ihrer Linse: Gustav Klimt, Coco Chanel, und sogar Kaiser Karl I. warf sich für sie in Schale: Dora Kallmus war im mondänen Wien ab 1907 die berühmteste Fotografin ihrer Zeit. Den Zweiten Weltkrieg überlebte die Jüdin versteckt in Frankreich. Danach änderte sich ihre Fotografie, sie dokumentierte das Elend der Flüchtlinge und den Tod in den Pariser Schlachthöfen. Der Katalog zur Ausstellung, die bis 29. 10. im Leopold Museum zu sehen ist, öffnet die Tür in eine Zeit, deren Glamour unvergleichlich war.

Faber, Ruelfs, Vukovic. Machen Sie mich schön, Madame d’Ora! Brandstätter Verlag, 356 Seiten, 50 Euro.
Mein Spezialtipp von Bernd Melichar

Laurence Sterne Dass Übersetzungen über Wohl oder Übel einer Lektüre entscheiden können, wurde selten so augenscheinlich wie bei der Neuübersetzung von Laurence Sternes „Tristram Shandy“ durch den vielfach preisgekrönten Michael Walter. Zum 250. Todestag des Urvaters des modernen Romans nimmt diese „empfindsame Reise“ wieder prächtig Fahrt auf. Gemeinsam mit dem „Tagebuch des Brahmanen“, Satiren und Briefen ergibt das eine prächtige Werkausgabe, über die sich auch der „Paganini der Abschweifungen“ (Copyright: Harry Rowohlt) gefreut hätte.

Laurence Sterne. Werkausgabe. Galiani Verlag, 1952 Seiten, 100 Euro.
Buchtipps

Auf der Insel der Täuschung

Auf der Insel der Täuschung Die Natur, diesfalls jene auf einer abgelegenen schottischen Insel, ist die Hauptfigur in dieser üppigen, voll klassischer Grazie erzählten Geschichte. Dorthin verschlägt es eine Literaturwissenschaftlerin, die sich auf die Spur des hiesigen Nationaldichters macht. McAfee destilliert aus dieser knorrigen Landschaft Menschengewächse, die oft nicht sind, was sie scheinen. Eine faszinierende Reise ins Epizentrum des Täuschens. BM

Annalena McAfee. Zurück nach Fascaray. Diogenes, 960 Seiten, 32,90 Euro.

Die Straße des Rock ’n’ Roll

Die Straße des Rock ’n’ Roll Zottelige Menschen feiern eine wüste Musikparty in Woodstock, geheimnisvolle Menschen betreten den Mond, verzweifelte Menschen bluten und sterben in Vietnam – und J. J. und sein bester Freund „El Greco“, beide zehn Jahre alt, sind zwei junge Menschen, die in New Jersey auf dem holprigen Weg zur eigenen Identität sind. Auf einem rührenden Roadtrip, durchtränkt von Rock ’n’ Roll, merken sie, dass das Erwachsenwerden unausweichlich, aber nicht unbedingt erstrebenswert ist. BM

Mark Thompson. El Greco und ich. Mare, 240 Seiten, 20,70 Euro.

Auf einen Mokka mit Herrn Eggers

Dave Eggers ist auf die Bohne gekommen. Er schrieb einen höchst verblüffenden Tatsachenroman über den Kaffee.

Auf einen Mokka mit Herrn Eggers Dave Eggers ist stets für fesselnde und verblüffende Leseabenteuer zu haben. Mit „Circle“ präsentierte er zuletzt eine alles andere als schöne, neue Welt. Nun liefert ihm eine anfangs kirschrote Frucht die Basis für einen faszinierenden und spannenden Tatsachenroman rund um das wahre Herkunftsland des Kaffees. Es ist – dreimal darf garantiert falsch geraten werden – der Jemen.

Die Ausgangslage: Durch Zufall lernt der US-Autor in San Francisco einen jungen Mann kennen, der aus dem Jemen floh und beschloss, zumindest einem Teil der US-Plörre-Trinker beizubringen, was denn wahre Kaffeehauskultur alles beinhalten kann. Vor allem aber wollte er ein wenig mehr an Gerechtigkeit für sein als „Schurkenstaat“ geltendes, restlos zerbombtes Heimatland. Dort befindet sich eine rund 10.000 Einwohner zählende Hafenstadt namens Mokka. Die Stadt liegt in Schutt und Asche, der Mokka wurde zu einem rund um den Erdball geläufigen Begriff. Zahlreiche Interviews führte Eggers mit Mokhtar Alkhanshali, der heute zu den besten Kaffeeherstellern der USA zählt und zu einem Vorkämpfer gegen die Ausbeutung der Plantagenarbeiter und den häufigen Missbrauch des Gütesiegels „Fair Trade“ wurde.

Eggers erzählt, mit welchen kriminellen Tricks die Kaffeepflanze von Land zu Land gebracht wurde, wie nach der Türkenbelagerung in Wien das erste Kaffeehaus entstand, er verweist darauf, welche üblen Milliardengeschäfte mit dem einstigen „Wein des Islams“ betrieben werden. Dies sind nur einige Details rund um eine Bohne, die maßgeblichen Anteil an der Schräglage der Globalisierung hat. Und keineswegs ist es die abenteuerliche Geschichte eines mutigen Pendlers zwischen zwei Welten, der den Mokka wieder in das ihm gebührende Licht rückt. Werner Krause

Dave Eggers. Der Mönch von Mokka. KiWi, 384 Seiten, 22,70 Euro.

Untertauchen in Roman und Stadt

Untertauchen in Roman und Stadt Es gibt diese Glückfälle, wo in einem Roman alles passt: Die Story ist spannend, die Charaktere riechen nach Leben, die Atmosphäre ist aufgeladen, aber nicht getrieben. All das bereitet großes Lesevergnügen – und kommt noch dazu als große Literatur daher. Pulitzer-Preisträgerin Jennifer Egan ist die Glücksfee, die uns diese Freude bereitet mit einem New-York-Roman, in dem sie eine Zeitreise in die 1930er und 40er antritt. Im Mittelpunkt steht eine irische Einwandererfamilie. Die Mutter rackert im Akkord, der Vater erledigt Botengänge für zwielichtige Gesellen, Tochter Lydia ist behindert und Tochter Anna, die Hauptfigur, eine zielstrebige „Steherin“, die sich nicht unterkriegen lässt und eines Tages als Marinetaucherin ihrer Stadt auf den Grund gehen wird. Ein Roman wie New York ist das geworden, Egan sei Dank: wild, laut, zärtlich, leise, ausufernd, intim, hypnotisch. Sofort abtauchen zur Lektüre! Bernd Melichar

Jennifer Egan. Manhattan Beach. S. Fischer, 496 Seiten, 22, 70 Euro.

Völlig losgelöst von der Erde

Völlig losgelöst von der Erde Sie waren die Helden in fliegenden Kisten, der Ausgang ihrer Abenteuer immer ungewiss. Aber sie traten ihren Weg ins All an, um einen Traum wahr werden zu lassen: die Mondlandung. „Moonshots“ gibt Einblicke in das fotografische Erbe der Astronauten des Apollo-Programms. Über 200 Aufnahmen, gefertigt mit Hasselblad-Kameras, geben Einblick in die Ära. Apropos Einblick: Jener Mann, der Sie hier anblickt, ist Buzz Aldrin. Er betrat hinter Neil Armstrong als zweiter Mensch den Mond. Hier hat er sich während seines Gemini-XII-Weltraumspaziergangs fotografiert. Damals war das Wort „Selfie“ übrigens noch nicht erfunden.

Piers Bizony. Moonshots. NG Buchverlag, 240 Seiten, 51,40 Euro.
Die Zäsur seines Lebens

Simplicissimus zieht in den Bürgerkrieg

Berührend, absurd komisch und abgebrüht: Sebastian Barry zieht in den amerikanischen Bürgerkrieg und kehrt mit einem Wunderwerk zurück. Von Werner Krause

Simplicissimus zieht in den Bürgerkrieg Vor einigen Jahren schickte der Ire Sebastian Barry, sicher einer der besten Erzähler der Gegenwart, einen Iren, knapp 17 Jahre alt, glückstrahlend in den Ersten Weltkrieg. Resultat: eines der traurigsten Werke jüngerer Zeit. In dieser Hinsicht wiederholt sich die Geschichte. In „Tage ohne Ende“ hat der Protagonist ebenfalls 17 Lebensjahre absolviert. Auch er ist ein Ire, kennt das Wort Hoffnung längst nicht mehr und landet, in die USA geflohen vor der großen Hungersnot in seiner Heimat, für einen Hungerlohn in der Armee. Zehntausende seiner Landsleute taten dies auch, bald fanden sie sich im großen Gemetzel wieder – im amerikanischen Bürgerkrieg.

Weitgehend durch tiefschwarzen Sarkasmus geprägt sind die Schilderungen des Protagonisten, der für all das Meucheln und Morden keinerlei Restvorrat an Emotionen mehr hat.

Selbst die doch recht existenzielle Frage, ob und wie er überleben könnte, stellt er sich nicht mehr. Es ist ihm egal, er ist gestorben mitten im Leben. Einzig die Liebe zu seinem irischen Freund gibt ihm ab und zu Halt inmitten all des Wahnsinns. Hymnisch waren die Reaktionen zahlreicher US-Kritiker, die in diesem irisch-amerikanischen Galgenvogel einen irisch-amerikanischen Simplicissimus erkannten. Kein schlechter Vergleich für einen, dem der Horror nichts mehr anhaben kann.

Großartig gelingt es Sebastian Barry, sich in die Denkweise und die Sprache seines Antihelden zu versetzen, der all seine Lakonie letztlich doch als durchaus brauchbare Gegenwaffe einsetzt. Ein Wunderwerk, lyrisch, grausam, pointiert, ein Beleg dafür, welche Geschichten sich der Geschichte abringen lassen, wenn sie dem richtigen Autor in die Hände fallen.

Sebastian Barry. Tage ohne Ende. Steidl, 256 Seiten, 22,70.
Buchtipps

Die Geschichte einer Verschmelzung

Die Geschichte einer Verschmelzung Bereits im Jahr 1994 erschien Elena Ferrantes Debüt „Späte Liebe“, allerdings ohne größeres Interesse zu erregen. Nun, nach dem Hype rund um ihre große Neapel-Saga, ist der Roman in einer Neuübersetzung herausgekommen. Und zeigt, dass viele Themen der italienischen Autorin, die unter einem Pseudonym schreibt, schon damals angelegt waren: Wieder geht es um zwei Frauen, um Neapel, die Armut, die häusliche Gewalt, das Patriarchat, den dortigen Dialekt.

Delias Mutter ist auf mysteriöse Art gestorben. Damit beginnt die Geschichte. Drei beunruhigende Anrufe haben sie erreicht, jedes Mal hat die Mutter verstört geklungen. Was ist in den Stunden vor ihrem Tod passiert? Die Geschichte startet wie ein Psychothriller und wird irgendwann auch von einem möglicherweise begangenen Missbrauch erzählen. Vor allem aber verschmelzen die beiden Frauen immer mehr zu einer Person. Was ist wahr, was Einbildung? Und wo fantasiert Delia sich ins Leben der Mutter? Die mitunter fast surreale, psychologisch dichte Geschichte einer Mutter-Tochter-(Hass-)Liebe. Marianne Fischer

Elena Ferrante. Lästige Liebe. Suhrkamp, 206 S., 22.70 Euro.

Das Spiel gewinnt immer der Automat

Das Spiel gewinnt immer der Automat Im Original heißt dieses Buch „Pachinko“. Das ist eine in Japan sehr beliebte Mischung aus Geldspielautomat und Arcade-Spiel. Warum Min Jin Lee, die US-Koreanische Autorin, diesen Titel gewählt hat? Vielleicht meinte sie das: Auch das Leben ist ein Spiel – aber den Gewinn streift selten der Spieler ein.

In ihrem bewegenden, in großer Ruhe, aber mit viel Herzblut geschriebenen Epos über ihre Heimat vereint Jin Lee Weltgeschichte mit Familiengeschichten, beides auf dramatische Weise miteinander verbunden. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Korea von Japan annektiert. Tausende Koreaner verließen ihren ausgelaugten Grund und Boden und wanderten nach Japan aus, wo sie als Menschen zweiter Klasse lebten, oft nur überlebten. Die Söhne von Sunja, ebenfalls eine Vertriebene, gehen verschiedene Wege – einer davon endet in der Spielhalle. Womit wir wieder bei „Pachinko“ wären. Große Literatur auf leisen Sohlen! Bernd Melichar

Min Jin Lee. Ein einfaches Leben. dtv, 552 S., 24,70 Euro.

Sie hüten deinen Wortschatz

Per Gesetz mundtot gemacht: Die neue US-Regierung verfügt, dass Frauen nur noch 100 Wörter am Tag sprechen dürfen. Ein Debütroman, der mehr als nur Gänsehaut verursacht. Von Susanne Rakowitz

Sie hüten deinen Wortschatz Wie beginnt es eigentlich? Wie immer harmlos. Keine große Sache, na ja, bis auf Jackie, aber die ist ohnehin immer in Alarmstimmung von wegen: Ihr werdet schon noch sehen. Also: Alles beim Alten. Und dann geht es schnell. Das Armband ist silber. Für Mädchen gerne auch mal rosarot, sie sind ja keine Unmenschen. Und es zählt, das Zählwerk im Armband, von 0 bis 100. Es zählt Wörter. Von Mitternacht bis Mitternacht. Das reicht, hat die neue US-Regierung beschlossen. 100 Wörter für jede Frau und jedes Mädchen pro Tag. Wer die Grenze überschreitet, bekommt einen Stromschlag. Und noch einen und noch einen, wer noch nicht genug davon hat, über die Grenzen zu gehen. Jean McClellan, die bislang höchst erfolgreiche Neurolinguistin und Mutter von vier Kindern, ist wie alle Frauen, zum Schweigen verdammt. Die Männer haben im doppelten Sinne das Sagen, während die Frauen ihren Wortschatz hüten müssen. Abgeschnitten von der Kommunikation ist Jean auch bald ihren Job los. Innerhalb der Familie schleicht sich sogar so etwas wie Normalität ein. Der Widerstand wird weniger oder kehrt sich um: Ihr jugendlicher Sohn beginnt sich mit den Idealen der Führung zu identifizieren: „So etwas nennt sich Führerschaft, Mum. Und das ist es, was reine Männer tun.“ Was darauf antworten, mit 100 Wörtern pro Tag? Doch ihre große Chance kommt, als der Bruder des Präsidenten einen Unfall hat – Jean ist die einzige Wissenschaftlerin, die ihn retten kann.

Autorin Christina Dalcher skizziert mit eindringlicher Klarheit, was passiert, wenn man ein ganzes Geschlecht mundtot macht. Wie Solidarität verpufft, wenn der eigene Vorteil sichtbar wird, und wie schnell man gesellschaftliche Grundordnungen über Bord wirft. Doch auch in der Dystopie gibt es einen Hoffnungsschimmer und dafür braucht es gerade einmal fünf Wörter, aber die haben es in sich: „Schätzchen, Widerstand gibt’s immer.“

Christina Dalcher. Vox. S. Fischer, 400 Seiten, 20,60 Euro.

Funkenflug einer Epoche

funkenflug einer Epoche Eigentlich wollte Bruce W. Talamon Anwalt werden, aber dann lockte ihn die Welt des Entertainments, die der afroamerikanische Fotograf mit seiner Kamera einfing. Seinen Durchbruch hatte Talamon in den 70ern, als der Funke der brodelnden Soul- und Funkszene auf die Charts übersprang. Die Fotos in diesem Band (im Bild Diana Ross) lassen den Groove einer Epoche aufleben.

Bruce W. Talamon. Soul. R&B. Funk. Photographs 1972–1982. Taschen,376 Seiten, 50 Euro.
Funkenflug einer Epoche

Vom Hengst zum Hutschpferd

Lina Wolff zieht nicht nur Michel Houellebecq souverän die Dichterhose aus.

Vom Hengst zum Hutschpferd Laut Borges gehören Spiegel und Geschlechtsverkehr abgeschafft, weil sie die Anzahl der Menschen erhöhen. Lisa Wolff, Leitfigur der schwedischen Frauenbewegung, bläst zumindest den notgeilen Papier-Pornografen und Frauenverachtern den Marsch. In ihrem raffiniert verzahnten Roman, inspiriert durch Michel Houellebecq. dreht sie den Spieß um und zieht nicht nur ihm die Hosen aus. In ihrem Romandreiteiler steht ein ekelhaftes Originalmanuskript im Zentrum; es landet im Kaminfeuer. Das Werk heißt „Die polyglotten Liebhaber“, der Autor könnte ein schräges Spiegelbild von Monsieur Houellebecq und anderen Machos sein; sie verkommen vom Hengst zum Hutschpferd. Mit Provokationen aber hat Lina Wolff nichts im Sinn. Sie zeigt Menschen im Niemandsland der Gefühle. Ein reales Zustandsbild, das sofort in seinen Bann zieht. Werner Krause

Lina Wolff. Die polyglotten Liebhaber. Hoffmann & Campe, 288 Seiten, 22,70 Euro.
Buchtipps

Das Nahe so fern

Lina Wolff zieht nicht nur Michel Houellebecq souverän die Dichterhose aus.

Das Nahe so fern Fast jeder kennt das immer wieder faszinierende Spiel mit gleichnamigen Polen von Magneten. Bis zu einem gewissen Grad ist eine Annäherung möglich, dann verhindert eine unsichtbare, magische Kraft jede weitere Form der Nähe. Diese Distanz des Naheseins prägt auch Ally Kleins Debütroman „Carter“; Auszüge daraus präsentierte die in Berlin lebende Autorin beim diesjährigen Bachmannpreis und löste mit ihrem Text erhebliche Irritationen aus. „Carter“ ist eine Beziehungs- und Entziehungsgeschichte zugleich, die Titelfigur taucht fast aus dem Nichts auf, namenlos eigentlich, eine rätselhafte Existenz mit magischer Anziehungskraft, die aber auch stets ins Abstoßende münden kann.

Das macht Carter gleichsam zu einer Art lebendem Zirkel, er kreist um sich, die Ich-Erzählerin, restlos angetan von dieser Distanz der Nähe, schafft es nur höchst selten, in diesen Kreis einzudringen. Ally Klein schuf ein an Sprachbildern und detaillierten Beobachtungen reiches und betörendes Werk, das sich – traumwandlerisch – jeder Deutung entzieht. WK

Ally Klein. Carter. Droschl, 208 Seiten, 20 Euro.

Puzzlestück für Puzzlestück

Puzzlestück für Puzzlestück Christian Kauffmann schlägt gern einen plauderhaften Ton an, aber Dampfplauderer ist er keiner, sondern ein guter Beobachter. Das liegt in der Natur der Sache, er ist Butler in einem ehrwürdigen Haus. Doch seine charmanten Persönlichkeitsanalysen führen geradewegs in einen Kriminalfall. SR

Verena Rossbacher. Ich war Diener im Hause Hobbs. Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 22,70 Euro.

Die Mitläufer des Bösen

Die Mitläufer des Bösen Die Geschichte des dämonischen Nazi-Lagerarztes Josef Mengele ist bekannt, doch mit den Mitteln der (historischen) Literatur lässt Olivier Guez die Abgründe des Menschen und der Zeit wiederauferstehen. Doch die bezwingende Erzählung geht weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus und beschäftigt sich mit der Psyche des Gesuchten bis zu seiner Verhaftung 1979 – und vor allem mit dem Wegsehen vieler Beteiligter. Ein Dokument über Macht und Mitläufertum. BM

Olivier Guez. Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau, 224 S., 20,60 €.

Das Wissen der Erde

Das Wissen der Erde Bitte keine Witze darüber, dass Schönheit oberflächlich ist. Denn hier ist die Geschichte der Erde absolute Verschlusssache. Versteinerte Bäume sind nicht nur ein Quell an Informationen, sondern spiegeln auch die Schönheit chemischer Prozesse wider – wie das hier abgebildete 220 Millionen Jahre alte achatisierte Araukarien-Astholz. Ein ganzer Bildband zelebriert die Schönheit dieser Naturwunder.

Andreas Honegger. Das Gedächtnis der Bäume. Elisabeth-Sandmann-Verlag, 128 Seiten, 51,30 Euro.
Das Wissen der Erde

Vom Bretterzaun am Ende der Welt

Philipp Weiss macht in seinem monumentalen Debütwerk zahllose Nägel mit viel Köpfchen. Dass auf 1000 Seiten ab und zu etwas danebengeht, liegt in der Natur der Materie. Von Werner Krause

Vom Bretterzaun am Ende der Welt Von Arno Schmidt, der ja auch den einen oder anderen monumentalen Textbrocken in die Literaturlandschaft wuchtete, man denke nur an „Zettels Traum“, stammen einige höchst lehrreiche Ratschläge für die Herangehensweise an ein geplantes Roman-Massiv. Jahrelang gelte es, alles nur erdenkliche und eventuell brauchbare Material für das Vorhaben zu sammeln. All das Gefundene müsse möglichst unterkühlt gehalten werden, ehe es in die Phase zwei geht. Die erneute Sichtung, das Aussortieren – und dann das große Erhitzen, die Zusammenschweißung. Möglichst nahtlos.

Der Wiener Autor Philipp Weiss (36), der bisher als sprachlich exzellenter Dramatiker auf sich aufmerksam machte, hielt sich zumindest am Beginn seines Riesenprojekts an ein ähnliches Verfahren. Rund sechs Jahre lang durchforstete er seinen gewiss stattlichen Wissensfundus, eignete sich etliche weitere Erkenntnisse an, um dann zu einem furiosen Tanz auf unterschiedlichsten Erzählebenen abzuheben. Tausend Seiten umfasst sein Epos „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“, gegliedert ist es in fünf Bände, die stilistisch und formal völlig eigenständig sind, aber zumindest zwei Gemeinsamkeiten aufweisen. Stets tritt ein Ich-Erzähler oder eine Ich-Erzählerin auf den Plan, und thematisch führt diese mehrere Jahrhunderte umfassende Universalgeschichte menschlicher Weisheit und Dummheit immer wieder nach Japan. Und dort vor allem zum Super-GAU in Fukushima.

Beim Titel nahm Philipp Weiss eine Anleihe bei Nietzsche und dessen Zarathustra, das Lachen ist für ihn aber nur die Verdrängung der Verzweiflung, für die aktuell ja einiger Grund besteht. Ganz klar ist, dass er die konventionellen, halbwegs linearen Erzählweisen vom Tisch fegen wollte. Es gelang ihm eindrucksvoll.

Seine Welt-Umschau beginnt mit der „Enzyklopädie eines Ichs“, angeblich aus dem Jahr 1881, die klare Bezüge zu Andreas Okopenkos legendärem „Lexikon-Roman“ aufweist, aber auch Roberto Bolaño und Jorge Luis Borges grüßen von allen Ecken und Enden. Einer der Bände ist Reise- und Liebesroman zugleich, am Ende steht ein Manga-Buch, also die japanische Comic-Version.

Manches wirkt allzu wissensüberfrachtet, ein kühnes, herausragendes Unterfangen ist es allemal. Geraume Zeit bestand ja die Vorstellung, am Ende der Welt befinde sich ein Bretterzaun, mit Löchern drin, um durchzuschauen. Weite Blicke kann man dank des Autors tun, der so kühn aufbrach, um sich in einer zugebretterten Welt seinen eigenen Erzählkosmos zu schaffen. Chapeau.

Philipp Weiss. Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Suhrkamp, 1000 Seiten, 49,40 Euro.

Behutsame Geschichte einer Lebenswende

Behutsame Geschichte einer Lebenswende Langsam und zart ist die Annäherung Angelika Overaths an ihre Figuren, immer wieder unterbrochen durch religionshistorische Exkurse über christliche Mystik und islamischen Sufismus. Vor der vibrierenden Kulisse Istanbuls, wo Asien und Europa aufeinandertreffen, begleitet man in neun Kapiteln, die durch neun Stadtviertel führen, die Helden dieses poetischen Romans: Der Religionslehrer Cla verbringt einen Winter zu Studienzwecken am Bosporus, eine diffuse Sehnsucht nach einem „intensiven Leben“ im Gepäck. Das Zögern, sich für seine in der Schweiz zurückgebliebene Freundin Alva zu entscheiden, belastet ihn („Immer war diese Unentschiedenheit zwischen ihnen, die, er wusste es, von ihm ausging“). Die homoerotische Freundschaft mit dem Kellner Baran beglückt ihn. Ruhig und behutsam entwickelt sich die Lebenswende für alle drei. KP

Angelika Overath. Ein Winter in Istanbul. Luchterhand, 272 Seiten, 20,60 Euro.

Ein höchst vergnügliches, lehrreiches Lebenszeichen

Ein höchst vergnügliches, lehrreiches Lebenszeichen Jahr für Jahr muss Alois Brandstetter eine sogenannte „Lebensbescheinigung“ nach Deutschland schicken. Nur dann bekommt der Germanist, der vor seiner Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt dreizehn Jahre an der Universität des Saarlandes unterrichtet hat, seine deutsche Rente ausbezahlt. Ein „Lebenszeichen“ – so nennt der Autor, der am 5. Dezember 80 Jahre alt wird, auch sein neues Buch. Darin führt er höchst vergnüglich, aber auch lehr- und kenntnisreich durch Alltagsbetrachtungen ebenso wie durch die großen Fragen des Lebens. Adalbert Stifter und Wolfram von Eschenbach, Aktiv- und Passivraucher, Wutbürger und Gutmenschen: Eines führt zum anderen und Erinnerungen (etwa an den Rauswurf aus der Schule wegen „pubertärer Aufsässigkeit“) mischen sich – gerne ironisch gebrochen – mit Bildungsgut und zahlreichen Lektüreverweisen. Und wer jetzt auch Lust auf ein (Wieder-)Lesen von früheren Brandstetter-Werken wie „Zu Lasten der Briefträger“, „Kummer ade!“ oder „Aluigis Abbild“ bekommt: Gerade sind auch „Ausgewählte Werke in vier Bänden“ erschienen. MF

Alois Brandstetter. Lebenszeichen. Residenz, 256 S., 24 Euro.

Alois Brandstetter. Ausgewählte Werke in vier Bänden. Residenz, 920 Seiten, 59 Euro.

Ich kann dich echt gut riechen

Ich kann dich echt gut riechen Er kann flüchtig sein, ein Begleiter für das Leben und er kann Bilder im Kopf erzeugen: der Duft. Claire Bingham entführt uns in die Welt der Duftmagier, wie hier zum Floristen Eric Buterbaugh, deren intensive Studien sich als Essenz in einem Fläschchen wiederfinden. Wir besuchen magische Duft-Orte und prüfen legendäre Parfüms, wie „Chanel N°5“, auf Herz(noten) und Nieren. Eine dufte Sache? Auch, aber vor allem magisch.

Claire Bingham. A Scented World. teNeues Verlag, 224 Seiten, 51,40 Euro.
Ich kann dich echt gut riechen

Die Barbaren in China waren die Christen

Stephan Thome erzählt in seinem Historienepos von spitzen Nasen, langen Zöpfen und dem Gott aus dem Westen. Von Karin Waldner-Petutschnig

Die Barbaren in China waren die Christen Wer Stephan Thomes für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominierten Romane „Grenzgang“ und „Fliehkräfte“ noch im Kopf hat, muss umdenken. Denn der Themenwechsel ist radikal. Doch auch der vierte Roman des deutschen Autors landete heuer wieder auf der Shortlist und lohnt die Lektüre. Stammten die Vorgängerbücher mitten aus der Gegenwart deutscher Befindlichkeiten, so ist der „Gott der Barbaren“ ein komplexer Historienroman, der im China des 19. Jahrhunderts spielt. Christliche Fundamentalisten führten damals eine Bauernrebellion im Kaiserreich an, die als „Taiping-Aufstand“ mit mehr als 20 Millionen Toten in die Geschichte einging.

Der Sinologe und Philosoph Thome rollt anhand von drei Hauptfiguren, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, ein buntes Epochenpanorama auf, das detailgenau und spannend eine uns meist fremde Welt eröffnet.

Der junge Deutsche Philipp Johann Neukamp, Revolutionär von 1848, reist für eine Missionsgesellschaft nach China und erlebt dabei einen Kulturschock im Stil klassischer Abenteuerliteratur à la Karl May: „Sie blickten auf unsere spitzen Nasen wie wir auf ihre Zöpfe, wir hielten sie für unterwürfig und verschlagen, sie uns für herrschsüchtig und gierig, und im Grund ihres Herzens verstanden sie nicht, was wir von ihnen wollten.“ Neben dem fiktiven Missionar stehen sich im Roman zwei historische Figuren gegenüber. Mehr Alter Ego als Gegenspieler für den Briten Lord Elgin, Sonderbotschafter der britischen Krone, ist der Chinese Zeng Guofan, der den Kampf gegen die Aufständischen anführt.

Zahllose weitere Figuren, Handlungsstränge und Perspektiven fordern die volle Aufmerksamkeit des Lesers, der von der ersten Seite an in eine exotisch-sinnliche Atmosphäre zwischen Orient und Okzident eintaucht. Parallelen zu Konflikten der Gegenwart ergeben sich unangestrengt. Wer Daniel Kehlmanns „Tyll“ und Franzobels „Floß der Medusa“ gerne gelesen hat, wird auch von Stephan Thomes China-Wälzer begeistert sein.

Stephan Thome. Gott der Barbaren. Suhrkamp, 719 S., 25,70 Euro.

Im Namen des Vaters oder die Reise ins „Niemandland“

Im Namen des Vaters oder die Reise ins „Niemandland“ Man weiß es nicht – und auch die hohe Literaturkritik ist zwiegespalten: Ist der Autor völlig verrückt geworden – oder ein Genie? Möglicherweise liegt eine Mischung aus beidem vor. „Man nennt es schreiben.“ Mit diesem Satz beginnt der deutsche Autor Michael Lentz sein taumelndes Opus Magnum, dessen Ichfigur wie einst Homers listiger Odysseus den Namen „Niemand“ trägt. Der Erzähler dieses Requiems sucht im Kopf nach Worten, ohne über die traditionellen Werkzeuge bzw. Möglichkeiten der Artikulation zu verfügen. Er trägt eine Art Gesichtsmaske und sitzt in einer dunklen Zelle. Der titelgebende „Schattenfroh“ ist vielerlei in einem: der Teufel, geheimnisvoller Einflüsterer, dann wieder der Vater. Immer wieder: der Vater. Die Suche nach diesem ist, sofern sich ein solcher herausschälen lässt, der Kern dieses buchstäblich erschütternden Buches.

Eines Buches, das viel abverlangt. Dem Schreiber in erster Linie, aber auch dem Leser. Ist dieser gewillt, in das Labyrinth aus Mythologie, archaischer Bibellandschaft und furchterregendem „Niemandland“ zu folgen, wird er belohnt mit ... Man nennt es Literatur. Bernd Melichar

Michael Lentz. Schattenfroh. S. Fischer, 1008 S., 37,10 Euro.

Die Erotik des leichten Tons

Die Barbaren in China waren die Christen Johann Friedrich von Allmen, Martin Suters Kunstexperte und Amateurdetektiv, ist reich an Fantasie, aber wieder einmal arm an finanziellen Möglichkeiten. Um diese Schieflage zu beenden, gerät er glatt auf die schiefe Bahn und bringt dort nicht nur sich selbst, sondern auch sein Faktotum Carlos in arge Bedrängnis. Der Allmen-Reihe, seit dem Vorjahr auch verfilmt, geht auch im fünften Band nicht die Luft aus. Wie der Erzähler Suter raffiniert die Fäden in der Hand hält, aber seinen Pappenheimern dennoch viel Freilauf lässt, ist ein durch und durch lässiges Lesevergnügen. BM

Martin Suter. Allmen und die Erotik. Diogenes, 272 S., 20,60 Euro.

„Stimmen“ aus dem Jenseits

„Stimmen“ aus dem Jenseits Als der Kult-Autor Wolfgang Herrndorf („Tschik“) starb, verlangte er testamentarisch die Vernichtung aller noch von ihm vorhandenen Texte. Dies wurde weitgehend befolgt. Bis auf jene Beiträge, die er in einem Internet-Forum unter dem Pseudonym „Stimmen“ veröffentlichte. Der Band versammelt u. a. berührende Rückblicke auf die Kindheit, Essays, kritische Auseinandersetzungen mit Kollegen oder Zufallsbekanntschaften im typischen Herrndorf-Stil, also reich an Lakonie und Selbstironie. „Es gibt nur die Kunst und den Mist“, schreibt er – und macht die Antwort leicht. WK

Wolfgang Herrndorf. Stimmen. Rowohlt, 192 Seiten, 18,50 Euro.

Die Faust im Nacken

Die Faust im Nacken Dieses Buch kommt zur richtigen Zeit – obwohl dieses „richtig“ natürlich einen bitteren Beigeschmack hat. Die Handlung beginnt Anfang dieses Jahrtausends in einem Kaff der Provinz Sachsen. Der Asphalt der Straßen ist frostzerbeult, im Inneren der Menschen schaut es nicht viel besser aus. Dann kommt es in Dresden zu Aufmärschen – und dann, auch das noch, kommen Flüchtlinge in den Ort. Der Kelomat, über den so lange der Deckel festgeschraubt war, geht hoch.
Lukas Rietzschel beschreibt mit viel kritischer Empathie und im lakonischen, aber nie flapsigen Ton den Zustand einer Familie und gleichzeitig jenen eines Landes. Philip und Tobias, die beiden Söhne, reagieren ganz unterschiedlich auf den vermeintlichen Untergang ihrer Heimat, aus der sie innerlich längst schon weggezogen sind. Der eine geht in sich, der andere ist vor Wut außer sich. Alleine sind sie beide, auch alleingelassen von einer Gesellschaft, die nur noch die Farben Schwarz und Weiß zulässt. Ein starkes Buch über ein noch stärkeres Erdbeben. Es erschüttert Mensch und Land. Bernd Melichar Bernd Melichar

Lukas Rietzschel Mit der Faust in die Welt schlagen. Ullstein, 320 S., 20,60 Euro.
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Massenweise Täuschungen

Massenweise Täuschungen Konstruiert wie ein raffiniertes Puzzlespiel ist Dennis Lehanes neuer Thriller „Der Abgrund in dir“, der mit einer trügerischen Idylle und einer scheinbar glücklichen Ehe beginnt, ehe der gefinkelte Autor seiner Geschichte um Doppelexistenzen unentwegt neue überraschende Wendungen gibt. Die Protagonistin, einst erfolgreiche Reporterin, leidet an einem Trauma, dem Leser bleibt ein Schleudertrauma nicht erspart. Heimtückisch gut. WK

Dennis Lehane. Der Abgrund in dir. Diogenes, 577 Seiten, 25,80.

Die düsteren Südstaaten

„Die düsteren Südstaaten Ein Mord an einem Mädchen, verübt vor 25 Jahren, ein vermeintlicher Täter, der beharrlich schweigt, dazu eine dumpfe Dorfgemeinschaft – „Krumme Type, Krumme Type“ von Tom Franklin ist ein ganz und gar herausragendes Südstaatenepos. Angst, Lügen, Vorurteile, Rassismus, all das ergibt ein stets brodelndes Gemisch, das alles zersetzt. Ein wuchtiges Werk über innerlich kaputte Menschen, ein amerikanisches Zustandsbild von großer Eindringlichkeit. WK

Tom Franklin. Krumme Type, krumme Type. Pulpmaster, 416 Seiten, 16,30 Euro.

Wäre King Kong doch links abgebogen

Wäre King Kong doch links abgebogen Es kann beglückend sein, ein Cineast zu sein. Doch Andrew DeGraff ist das zuwenig. Ihn interessiert, welche Wege Protagonisten in berühmten Filmen zurücklegen. Doch Tabellen sind seine Sache nicht, er schwingt lieber den Pinsel. Und so schafft er Kunstwerke der Wegbeschreitung, ob King Kong, Darth Vader oder James T. Kirk – kein Weg bleibt undokumentiert. A.D. Jameson sorgt mit Essays für das philosophische Unterfutter.

Claire Bingham. A Scented World. teNeues Verlag, 224 Seiten, 51,40 Euro.
Wäre King Kong doch links abgebogen

Pfeifen im Wald hilft nicht mehr

Ein virtuoses Trio: Simone Buchholz, Max Annas und Friedrich Ani beweisen, wie brisant, zynisch und vielschichtig Kriminalliteratur ist. Von Werner Krause

Relativ bald. Oder vielleicht zwei, drei Jahre später.“ Diese zwei Sätze stellte Max Annas seinem Roman „Finsterwalde“ voran. Nicht als Motto, sondern als beklemmende Prognose. In Deutschland haben die Rechten endgültig die Macht übernommen, die Europäische Union gehört der Vergangenheit an, den gnadenlosen Säuberungen gehört die Zukunft. Kleinstädte im Osten Deutschlands, die bereits jetzt zerfallen, werden umfunktioniert in das, was sich auch unser Innenminister wünscht: konzentrierte Lager. Streng bewacht, mit hohen Zäunen samt Stacheldraht versehen. Hinaus kommt keiner, hinein kommen viele. Eines dieser Lager befindet sich im einstigen Städtchen Finsterwalde. Dort landen nicht nur Asylanten, die nach Afrika oder Südamerika abgeschoben werden sollen, sondern auch Regimegegner. Die Denunziation blüht und gedeiht, die Überwachungsmethoden sind ausgeklügelt und flächendeckend, die Gehirnwäsche gelingt durch schon jetzt bekannte Phrasen perfekt. Es ist ein Horrorszenario, das Max Annas, der zuvor einige exzellente Südafrika-Thriller schrieb, in seinem neuen Werk liefert. Aber es ist, das stellt sich bei der Lektüre rasch heraus, alles andere als weltfremd oder wirklichkeitsfern. Hier zeigt ein hellwacher Geist, in welchem Albtraum wir uns bereits jetzt befinden; das Solopfeifen im finsteren Wald hilft da nicht mehr. Pflichtlektüre.

An allen Ecken und Enden brennt es auch in „Mexikoring“, dem neuen Polit-Thriller von Simone Buchholz. Aber sie hat sich, anders als Max Annas, dem Sarkasmus verschrieben. Auch wenn sie den Vergleich garantiert nicht mehr hören mag oder kann: Die Hamburger Autorin, mehrfach preisgekrönt, hat die Lakonie und den staubtrockenen Zynismus von Raymond Chandler im Blut. Und mit ihrer Protagonistin, der Staatsanwältin Chastity Riley, setzte sie die schlagfertigste Ermittlerin diesseits und jenseits des Äquators in die Welt. Simone Buchholz packt ebenfalls ein politisch heißes Eisen an – die Schlachten und Kleinkriege, die sich zugewanderte Familienclans liefern. Und nebstbei in Hamburg und Bremen Menschen und Autos abfackeln. Auf Gesetze und die Exekutive pfeifen sie aus anderen Gründen, ein Friedensrichter spricht am Ende der Gemetzel sein Urteil. Simone Buchholz versteht es mit Scharfblick, die Zeichen an der Wand richtig zu deuten. Pflichtlektüre Nr. 2.

Hinlänglich bekannt sind die sprachlichen und erzählerischen Qualitäten von Friedrich Ani. Er startet in „Der Narr und seine Maschine“ eine Parallelaktion. Sein stets wortkarger Detektiv Tabor Süden will das Feld räumen und für immer verschwinden. Ziellos, spurlos. Aber er wird von seiner Chefin überredet, sich noch einmal auf die Suche nach einem Verschwundenen zu machen. Der Vermisste war einst ein erfolgreicher Krimischriftsteller, der ebenfalls nur einen Wunsch hat. Auch er will, alt, leer geschrieben, leer gelebt, der Welt den Rücken kehren.

Letztlich kreuzen sich ihre Wege, das Gespräch der beiden Untertaucher gleicht einem seelischen Showdown. Eine melancholische Geschichte am Rande der Finsternis; dennoch führt sie, dem Moebiusband gleich, zumindest einige Schritte weit in die Unendlichkeit.

Lesung. Simone Buchholz, Max Annas und Friedrich Ani lesen am 27. und 28. 10. in der „Wasnerin“ in Bad Aussee. www.diewasnerin.at

Max Annas Max Annas. Finsterwalde.Rowohlt,400 Seiten,22,70 Euro.

Simone Buchholz Simone Buchholz. Mexikoring. Suhrkamp, 247 Seiten, 15,40 Euro.

Friedrich Ani Friedrich Ani. Der Narr und seine Maschine. Suhrkamp, 143 Seiten, 18,50 Euro.

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Der Profiler ist wieder da

Der Profiler ist wieder da Eine Rückkehr, auf die viele Krimifans lange warten mussten: Sebastian Bergman, schwedischer Profiler und Widerling mit Mitleidbonus, ermittelt wieder. Aber bis zu seinem Einsatz dauert es. Er ist völlig isoliert, will ein Buch schreiben, ehe er doch um Hilfe gebeten wird. Hjorth & Rosenfeldt sind erneut in Höchstform, geizen nicht mit Finten und Fallen – und auch nicht mit neuen Fettnäpfchen für Bergman. WK

Hjorth & Rosenfeldt. Die Opfer, die man bringt. Band 6. Wunderlich, 560 Seiten, 23,60 Euro.

Wie machen Sie das, Herr Black?

Wie machen Sie das, Herr Black? Herrlich actionbefreit waren sie immer, die Krimis, die John Banville unter seinem Pseudonym Benjamin Black schuf. Diesmal drehte er das Rad der Zeit erheblich weiter zurück, bis ins Jahr 1599. Nach Prag führt die Reise, an der Seite eines jungen Alchemisten, der von Kaiser Rudolf II. zum Ermittler ernannt wird. Ein famoser historischer Krimi, der durch die magische Hand von Banville auch zu einem düsteren Sprach- und Sittengemälde wird. Pure Alchimie eines Großmeisters. WK

Benjamin Black. Alchimie einer Mordnacht. Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 20,60 Euro.
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Vom Freund des Schülers Gerber

Vom Freund des Schülers Gerber Den Selbstmord eines Schülers, die Schuld der Lehrer und die Ratlosigkeit der Eltern haben schon Friedrich Torbergs Schüler Gerber und der Zögling Tjaz von Florjan Lipu(s) thematisiert. Jean-Philippe Blondel erzählt sensibel von Victor, dessen Mitschüler aus dem Fenster springt. Und plötzlich steht er selbst im Zentrum des Interesses. KP

Jean-Philippe Blondel. Ein Winter in Paris. Deuticke, 192 S., 19,60 Euro.

Reise zum Ende einer Liebe

Reise zum Ende einer Liebe Nur schmal, aber ungemein atmosphärisch ist der Roman der Französin Sophie Van der Linden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Auf eine Insel im Atlantik hat sich Youana zurückgezogen, entzogen ihrem Geliebten Henri, der ihr nachreist, um herauszufinden, warum. Die Naturgewalten bilden den stimmigen Hintergrund zur Begegnung, die allerdings zu keinem Happy End führt. 24 Stunden lang, einen Tag und eine Nacht, durchstreift Henri die Insel, lernt andere Männer kennen – einen Musiker, einen Fischer, einen Matrosen. Das Ende einer Liebe, erzählt in impressionistischen Szenen. KP

Sophie Van der Linden. Eine Nacht, ein Leben. Mare, 112 Seiten, 18 Euro.

Über die Macht des Erzählens

Mit „Königskinder“ hat Alex Capus einen kurzen, aber umso berührenderen Roman über die Verführung durch Sprache geschrieben. Von Bernd Melichar

Über die Macht des Erzählens Man kennt das: Man, ein Ehepaar diesfalls, hat sich nichts mehr zu sagen. Und wenn, dann wird gegeneinander gesprochen oder aneinander vorbei. Alex Capus, dieser Großmeister der leichten literarischen Muse, lässt ein sprachloses Ehepaar auf einem winterlichen Alpenpass stranden. Draußen steigt der Schneepegel, drinnen im Wagen sinkt die Frustrationstoleranz.
Da beginnt der Mann zu erzählen, eine (angeblich) wahre Geschichte aus der Zeit der Französischen Revolution. Damals, so der Erzähler, habe sich ein armer Hirte in eine reiche Bauerntochter verliebt. Von der Schweiz bis vor die Tore Versailles reicht der Sprachstrang, an dem die Frau anfangs nur zögerlich zieht.
Die Dialoge im Auto – die immer mehr zu mäandern beginnen – und die Wirren der Geschichte, mit leichter Feder werden sie von Capus miteinander verwoben. Und am Ende der Geschichte entsteht ein wunderschöner Teppich über die Macht des Erzählens.

Alex Capus. Hanser. 176 Seiten, 21,60 Euro.

Am Anfang waren die „Knochenkriege“

Mit „Jurassic Park“ brachte es Michael Crichton zu Weltruhm. Im Nachlass wurde die Erstversion entdeckt.

Am Anfang waren die „Knochenkriege“ Die Geschichte über den Fund könnte fast Stoff für einen neuen Abenteuerroman liefern. Im Nachlass ihres verstorbenen Mannes entdeckte Michael Crichtons Witwe ein Manuskript mit dem Titel „Dragon Teeth“. Es dauerte geraume Zeit, ehe die Bedeutung des bereits 1974 verfassten Werks erkannt wurde. Es handelte sich um ein Gemisch aus Fakten und Fiktionen, die Jahre später den Anstoß zum Weltbestseller „Jurassic Park“ lieferten. Die Story, eine Mischung aus Wissenschafts-Thriller und Western, führt zurück ins späte 19. Jahrhundert. Rivalisierende Forscher machen sich auf die Suche nach angeblich reichlich vorhandenen Saurierknochen. Ein riskantes Vorhaben, das zu blutigen Fehden führt, später „Bone Wars“ genannt. Ein Roman-Saurier, recht spannend.

Michael Crichton. Dragon Teeth. Blessing, 320 Seiten, 22,70

Sehnsuchtsort Himalaya

Mühsal, Qual, Spiritualität und Lebensglück: Die Himalaya-Region ist eine Herausforderung, für seine Besucher, aber vor allem für seine Bewohner. Dem französischen Fotografen Olivier Föllmi ist diese Landschaft und seine Bewohner längst zur zweiten Heimat geworden. Als Bergführer hat er sie erstiegen, als Sinnsuchender in einem buddhistischen Kloster hat er sie erfahren. Der vielfach ausgezeichnete Fotograf hat mit seinem Bildband eine Liebeserklärung, gespickt mit Anekdoten und Erinnerungen, abgegeben.

Olivier Föllmi. My Himalaya– 40 Years among Buddhists. teNeues, 304 Seiten,
Sehnsuchtsort Himalaya
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Große Stadt, großer Schlaf

Große Stadt, großer Schlaf Lassen Sie sich vom Coverbild nicht täuschen, hier handelt es sich nicht um einen gediegenen, schöngeistigen Roman aus dem viktorianischen Zeitalter. Wir sind vielmehr im tosenden New York der 2000er-Jahre, und dort hat sich eine junge Frau entschlossen, der lärmenden Welt durch einen Winterschlaf zu entkommen. Ein hypnotischer Roman, vordergründig lustig, doch im tiefsten Innern voll rauschhafter Bösartigkeit – und Verlorenheit. Fürwahr ein Buch der Unruhe. BM

Ottessa Moshfegh. Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Liebeskind, 320 S., 22,70 Euro.

Achtung, das Leben beißt!

Mit „Jurassic Park“ brachte es Michael Crichton zu Weltruhm. Im Nachlass wurde die Erstversion entdeckt.

Achtung, das Leben beißt! Mit „Naked“ und „Fuselfieber“ hat er bewiesen, dass er ein Pointenmillionär ist, aber für Lacher nicht über Leichen geht; in seinem neuen Buch knöpft sich David Sedaris einmal mehr den Familienkosmos und die eigenen Unzulänglichkeiten vor. Über den leichtfüßigen, aber dennoch schwergewichtigen Geschichten könnte der Titel eines anderen Buches von ihm stehen: „Das Leben ist kein Streichelzoo“. Wer durch die Gitter greift, kann leicht gebissen werden. BM

David Sedaris. Calypso.Blessing, 272 Seiten, 22,70 Euro.

Wie man Leseratten züchtet

Das Lesen ist bei Kindern wesentlicher Motor der Persönlichkeitsentwicklung. Es gibt Unterschiede zwischen Buben und Mädchen – und „Tricks“ für Eltern. Von Klaus Höfler

1Warum ist Lesen so wichtig für Entwicklung eines Kindes?

Durch (Vor-)Lesen wird die allgemeine Sprach- und Schriftkompetenz bei Kindern gefördert. Es lernt, sich besser auszudrücken und andere besser zu verstehen. Lesen gilt so als eine soziale Schlüsselkompetenz – sowohl im Umgang miteinander als auch für den individuellen Lernerfolg. Zudem ist Lesen „Doping“ für die Fantasie.

2Was bewirkt das Vorlesen bei Kindern?

Siehe Punkt 1. Vor allem aber entsteht – wenn das Kind nachfragt oder von den Eltern zusätzliche Erklärungen eingeflochten werden – direkte Kommunikation. Das funktioniert über ein E-Book, das mit Vorlesefunktion vom Tablet „vorgelesen“ wird, nicht. „Bücher, die sich selbst vorlesen, bringen gar nichts für die Sprachentwicklung des Kindes“, meint Hirnforscher Manfred Spitze: „Das Hirn braucht die Interaktion.“ Dennoch können auch altersgerechte und gut vorgetragene Hörbücher das Interesse der Kinder an Literatur wecken.

3Das Kind will nicht lesen – was jetzt?

Wer nicht gut lesen kann, liest nicht gerne. Um diese Negativspirale zu stoppen, empfehlen sich beispielsweise interaktive Bücher, die das Kind langsam in die Welt der Buchstaben und Wörter hineinziehen. Auch Bücher, in denen das Kind selbst vorkommt oder in denen der weitere Verlauf der Geschichte vom Kind durch Auswahlmöglichkeiten, wie weit vorgeblättert werden darf, mitbestimmt wird, können helfen. Ein zusätzlicher Trick: Beim Vorlesen sogenannte „Cliffhanger“ schaffen – also die Geschichte dann unterbrechen oder Folgen enden lassen, wenn es gerade richtig spannend ist. Das Buch dann offen liegen lassen. Nicht selten „gewinnt“ beim Kind die Neugier und es liest von alleine weiter. Der Spaß am Lesen muss erhalten bleiben, Zwang führt zu nichts.

4Welche Rolle spielen Illustrationen in einem Kinderbuch?

Sie sollen die Fantasie anregen, die Spannung steigern und den Blick für Details schärfen.

Wie man Leseratten züchtet
5Wie unterscheiden sich die Leseinteressen von Buben und Mädchen?

Mädchen präferieren Geschichten, in denen es um Beziehungen geht. Sie setzen sich mit dem Inhalt eher auf sozialer und emotionaler Ebene auseinander und bringen ihn in Bezug zur eigenen Umwelt. Buben dagegen bevorzugen Abenteuergeschichten von Helden außerhalb ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.

6Gibt es geschlechtertypische Unterschiede in der Lesekompetenz?

Ja, weil sich Mädchen in der Regel intensiver fürs Lesen interessieren, können sie es auch besser. Der Unterschied kann bei 15-Jährigen bis zu einem ganzen Schuljahr ausmachen. Schon zum Ende der Volksschule lässt sich ein erster „Leseknick“ feststellen. Bei Buben fällt er stärker aus, was dazu führt, dass sie an einem Punkt schon wieder zu lesen aufhören, an dem sie es noch gar nicht richtig gelernt haben. Mit der Pubertät kommt der zweite geschlechterübergreifende Leseknick. Auch dieser ist bei Buben viel ausgeprägter. Das hat zur Folge, dass mehr als die Hälfte der über 15-jährigen Burschen nur lesen, wenn sie es müssen.

7Wie kann man gegensteuern?

Indem man auf die Alltagsinteressen der Buben Rücksicht nimmt. Und keine Vergleiche mit Geschwistern oder anderen Kindern anstellen: Lesen ist ein individueller Prozess.

„Kämpft für andere Frauen!“

Die Journalistin und Aktivistin Hanna Herbst erklärt jungen Menschen Feminismus – präzise, politisch und persönlich. Von Julia Schafferhofer

Sie beschließen Ihr Buch „Feministin sagt man nicht“ mit der Aussage: „Feministin sagt man doch!“ Wie kam es zu diesem Projekt? HANNA HERBST: Ich habe sehr lange überlegt, ob ich dieses Buch schreiben soll. Der Brandstätter Verlag ist zu mir gekommen, ich habe zuerst einmal gesagt: „Das kriege ich nicht hin, das will und kann ich nicht.“ Dann hat mir eine Bekannte, die damals 18 oder 19 war, geschrieben. „Danke! Wegen dir habe ich zum Feminismus gefunden.“ Da habe ich mir gedacht: Ich darf das Buch nicht nicht schreiben.

An wen richtet sich Ihr Buch? An junge Frauen und Männer, die entweder noch nie etwas damit zu tun hatten oder sehr großen Respekt vor dem Thema haben. Und die merken: Hey, Feminismus ist gar nicht schlimm! Das ist selbstverständlich und notwendig. Bei einer Lesung bat mich eine Frau, ein Buch für ihre Tochter zu signieren, die ein Jahr alt ist. Damit sie es ihr schenken kann, wenn sie alt genug ist.

Wenn dieses Mädchen in die Pubertät kommt – welche Welt wäre ihm und uns zu wünschen? 15 Jahre sind nicht viel. Aber es hat eine gute Voraussetzung: eine coole Mutter! Eine, die es vielleicht freier erzieht und aufzeigt, dass man gewissen Rollen nicht entsprechen muss. Natürlich wünsche ich der Frau, dass sie in einer Welt erwachsen wird, in der ihr etwa nicht mehr gesagt wird, dass man mit Cellulite mangelhaft ist. Dafür sind 15 Jahre vollkommen utopisch. Im Idealfall ist es eine Welt, in der es den Feminismus nicht mehr braucht, weil alles erreicht ist.

Warum wird der Begriff Feminismus so sehr angefeindet? Es ist ein sehr politischer Begriff und wird von vielen in einem negativen Sinne benutzt, um Feminismus und Feministinnen zu diffamieren, damit ihre Anliegen nicht ernst genommen werden. Natürlich rüttelt der Feminismus mit seiner Forderung nach Gleichstellung an Privilegien. Leute, die privilegiert sind, müssen vielleicht welche abgeben, damit weniger Privilegierte welche dazubekommen. In den letzten Jahren ist man als Feministin zu stark auf das Reagieren fokussiert, dass wir große Utopien überhaupt nicht schaffen können.

Fehlt eine große Utopie? Nein, die fehlt nicht. Die wäre: Die Welt ist toll, wir brauchen den Feminismus nicht mehr. Das Frauenvolksbegehren hat ja versucht, sich dieser Utopie durch konkrete Forderungen anzunähern. Das Buch beinhaltet viele tolle Zitate großer Frauen wie jenes von der britischen Schriftstellerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) „Ich wünsche mir nicht, dass Frauen Macht über Männer haben, sondern über sich selbst.“
Wenn die wüsste, was heute ist! Es existieren so viele Forderungen schon so lange. Für viele Frauen, die schon seit 30, 40, 50 Jahren für die Gleichstellung kämpfen, ist es schwierig, dass man sich wiederholen muss. Selbst wenn wir alles erkämpft haben, heißt das ja nicht, dass es für ewig erkämpft ist. Wir sehen das ja verstärkt auch seit der letzten Wahl hier in Österreich.

Was sind aus Ihrer Sicht wichtige frauenpolitische Agenden? Viel zu viele. Sehr wichtig aber: Gewaltschutz. Weil das oft nicht als österreichisches Problem gesehen wird, sondern an Ausländer gebunden wird. Das ist politisch super verwertbar. Aktuelle Zahlen aus Deutschland belegen aber: Alle 24 Stunden versucht ein Mann, seine Frau zu töten, und jeden dritten Tag gelingt das. 149 Frauen in Deutschland wurden von ihrem Partner umgebracht, ca. 70 Prozent der Täter haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Nur wird das meist ignoriert und betroffene Frauen nicht gehört.

Wie sehen Sie den Ausgang des Frauenvolksbegehrens? Das Ziel des Frauenvolksbegehrens war immer, dass frauenpolitische Themen außerhalb der Parteipolitik diskutiert werden. Das ist das Wichtigste, das wir bewirken wollten und auch bewirkt haben.

Wenn jemand zu Ihnen kommt und sagt, sie sei keine Feministin, was kontern Sie? Ich denke, dass viele Feministen sind, ohne es zu wissen, oder sich einfach an dem Begriff stoßen. Ich habe ihn früher auch nicht verwendet, war aber eine. Ich finde es gut, wenn man den Begriff nutzt, ihn ausspricht und in die Welt trägt. Aber wenn nicht, ist das auch nicht so schlimm. Wichtig ist, dass man ein feministisches Leben lebt. Kämpft für andere Frauen, gegen Rollenzwänge, gegen nicht zu erfüllende Anforderungen an Frauen wie Männer.

Und wie wichtig ist es, die Männer ins Boot zu holen? Holen sollte man niemanden müssen. Dafür reicht die Kraft und Zeit oft nicht. Aber wenn jemand ins Boot steigen möchte, dann soll er oder sie das können. Das Boot ist erst voll, wenn alles erreicht wurde. Und das liegt in sehr weiter Ferne.

Zur Person

Hanna Herbst Hanna Herbst, geb. 1990 in Mainz, lebt in Wien.
Die Journalistin ist Co-Chefredakteurin des Magazins Liga, war stv. Chefredakteurin von Vice Österreich, Mitbegründerin des Frauenvolksbegehrens.

Buchtipp: Hanna Herbst. Feministin sagt man nicht. Brandstätter Verlag, 136 Seiten, 20 Euro.

Rückblick auf eine Ära

Rückblick auf eine Ära Die Zeichen der Zeit – nichts bildet sie so spannend ab wie Mode. Einer, der in diesem schrägen Zirkus immer tonangebend ist und keinem fremden Ton folgt, ist Chanel-Mastermind Karl Lagerfeld. Seit 1987 fotografiert er die Kampagnen des Hauses selbst. Sein Dogma: Frauen abbilden, die selbstbewusst und selbstbestimmt sind. Ein Prachtband versammelt alle Kampagnen auf einen Blick – inklusive der Stars der Modewelt, von Inès de la Fressange über Kate Moss bis Cara Delevingne.

Patrick Mauriès. Chanel: Karl Lagerfeld – Die Kampagnen. Prestel Verlag, 544 Seiten, 71 Euro.
Rückblick auf eine Ära

Kann ein Kind eine Beziehung verbessern?

DIE FRAGE: Ich lebe seit drei Jahren in einer Beziehung, liebe meinen Freund, habe aber das Gefühl, dass er nicht mehr wirklich bei mir sein will oder sich unsicher ist. Jetzt überlege ich, ein Kind zu bekommen. Wäre das nicht ein Kitt, selbst wenn er derzeit keines will?

Das Schlimmste, was ein von der Leidenschaft blind gewordener Mensch in Ihrer Lage tun kann, ist, ein Kind zu bekommen. Hier würde ein Kind gezeugt, ohne dass beide es wollen. Eine solche Entwicklung findet nicht selten statt. Wenn wir leidenschaftlich verliebt sind, möchten wir mit dem Partner sexuell zusammen sein. Und die höchste Frucht der sexuellen Vereinigung ist ein gemeinsames Kind. Der einseitig Verliebte sehnt sich nach beidem: nach der sexuellen Vereinigung und nach einem Kind vom Partner. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied zwischen beiden Wünschen: Eine sexuelle Vereinigung ist flüchtig und vergänglich, ein gemeinsames Kind besiegelt jedoch die Liebesbindung auf ewig. Der verliebte Partner spürt instinktiv: „Ein Liebhaber kann sich verflüchtigen, er mag mich im Stich lassen, aber sein Kind bleibt mein. Es ist unser Kind. Davor kann er nicht davonlaufen. Und selbst wenn er wegläuft, irgendwann wird sich das Kind aufmachen und nach seinem anderen Elternteil suchen. Er wird mich sein ganzes Leben lang nicht mehr los.“ Dieser Gedankengang ist vielleicht folgerichtig, aber fatal. Denn: Eine solche Entwicklung verbindet zwei Menschen miteinander, wobei der eine die Verbindung nicht will. Er wird versuchen, sich aus dem Staub zu machen. Und das Kind weiß nicht, dass es als Druckmittel, als Manipulationsmittel missbraucht worden ist, um den einen Elternteil an den anderen zu binden. Es wird sich von diesem unerwünscht vorkommen.

Kann ein Kind eine Beziehung verbessern? Die Zeichen der Zeit – nichts bildet sie so spannend ab wie Mode. Einer, der in diesem schrägen Zirkus immer tonangebend ist und keinem fremden Ton folgt, ist Chanel-Mastermind Karl Lagerfeld. Seit 1987 fotografiert er die Kampagnen des Hauses selbst. Sein Dogma: Frauen abbilden, die selbstbewusst und selbstbestimmt sind. Ein Prachtband versammelt alle Kampagnen auf einen Blick – inklusive der Stars der Modewelt, von Inès de la Fressange über Kate Moss bis Cara Delevingne.

Victor Chu ist Arzt und Psychologe und arbeitet seit Jahrzehnten als Psychotherapeut. Er ist Autor des Buches „Denn alles Glück will Ewigkeit. Fallstricke der Liebe“, 184 Seiten, 12,90 Euro. Erhältlich in den Büros der Kleinen Zeitung, auf shop.kleinezeitung.at und telefonisch unter 0800 55 66 40 526

Sachbücher

Tausend Geschichten von der Moskwa

Yuri Slezkine erzählt in einem formal exzessiven Buch noch einmal die Geschichte der Russischen Revolution.

Tausend Geschichten von der Moskwa Direkt am Ufer der Moskwa entsteht Ende der 1920er- Jahre ein gigantischer Bau, der neben Theater- und Kinosälen auch 500 Wohnungen umfasst. Dort bezieht die Elite des Sowjetstaats Quartier. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor in Berkeley, erzählt in „Das Haus der Regierung“ anhand dieses im doppelten Sinn mächtigen Gebäudes eine „Saga“ der Russischen Revolution.
Das ebenso gigantische Buch des 1982 nach Portugal emigrierten Russen beleuchtet aber weit mehr als das Haus am Fluss. Es ist der ambitionierte Versuch, das Wesen des Bolschewismus und der Sowjetunion noch einmal von Grund auf zu erklären. Slezkine geht dafür weit zurück in die Historie, folgt den späteren Hausbewohnern bis in ihre Jugendzeit, wo aus präpotenten Schulbanden subversive Gruppen hervorwuchsen.
Dass Slezkine den Bolschewismus als apokalyptische Lehre, als millenaristische Sekte interpretiert (die allerdings den Tag des Gerichts 1917 miterlebt), sorgte für Kritik. Manches möchte man nicht unwidersprochen lassen, dennoch ist das Buch ein genialer Wurf dank seiner wilden formalen Anlage. Es verwebt Soziologie, Geistesgeschichte, Psychologie, Literatur- und Staatswissenschaft, Persönliches und Politisches zu einer in tausend Farben changierenden Erzählung. Martin Gasser

Yuri Slezkine. Das Haus der Regierung. Hanser, 1344 Seiten, 50,40 Euro.

Auf der Seidenstraße zur Quelle einer Weltreligion

Xuanzang gilt Buddhisten als Marco Polo Asiens. 1400 Jahre nach seiner Zeit folgt Erich Follath nun dessen Spuren.

Auf der Seidenstraße zur Quelle einer Weltreligion Erich Follath hat sich ein Jahr lang auf die Spuren von Xuanzang begeben. Während der Mönch in der westlichen Welt noch weitgehend unbekannt ist, gilt er unter Buddhisten als ebenso berühmter Reisender seiner Zeit, wie es etwa Marco Polo war. Das zu ändern, ist das Ziel des Bestsellerautors. Als 28-Jähriger hatte sich der Chinese im Jahr 629 auf den Weg nach Indien gemacht, mit dem Esel, mit dem Kamel oder auch zu Fuß über die Gebirge und durch die Wüsten der Seidenstraße. Der gläubige Wissenschaftler wollte die Spuren des Religionsbegründers Siddharta Gautama ergründen und ließ sich nicht einmal von einem Verbot des chinesischen Kaisers aufhalten. Seine Reise wurde zu einem großen Triumphzug. Follath nimmt den Leser mit auf eine an sich schon faszinierende Reise, sein Erzählstil macht daraus eine klassische Reisereportage, die selten geworden ist, und ein Leseerlebnis. Follath wäre aber nicht Politikwissenschaftler und ehemaliger Asienkorrespondent, würde er seine Erzählungen nicht einbetten in den historischen Kontext. Während man mit ihm von der alten kaiserlichen Hauptstadt Xian über Bischkek, Peschawar nach Indien reist, wird man auch in die Geheimnisse des Buddhismus eingeführt und erfährt en passant in den vierzehn Abschnitten Zahlreiches über die aktuellen Verhältnisse in China und seinen Nachbarstaaten. Ingo Hasewend

Erich Follath. Siddhartas letztes Geheimnis. DVA München, 384 Seiten, 24,70 Euro.

Vermessung eines Landes

Vermessung eines Landes Sechs Buchstaben, die bei Anhängern überwältigender Fotografie den Puls beschleunigen: Magnum. Robert Capa, legendärer Gründervater der Fotoagentur, hat bereits 1938 China bereist, weitere Fotografen wie Henri Cartier-Bresson folgten, um die Umbrüche des Landes zu dokumentieren. In „Magnum China“ wird mit über 350 Bildern und begleitenden Texten die Transformation des Landes fotografisch verdichtet. Einblicke in eine Gesellschaft, die mitten in einer radikalen digitalen Revolution steckt.

Colin Pantall, Zheng Ziyu. Magnum China. Schirmer/Mosel, 376 Seiten, 51,20 Euro.
Vermessung eines Landes

Fulminante Entdeckung spaltet die Welt

Die Wienerin Lise Meitner gilt als „Mutter der Atombombe“. Der Physikerin blieb der Nobelpreis wegen Intrigen verwehrt.

Fulminante Entdeckung spaltet die Welt Dass eine Frau um die Jahrhundertwende herum in der Wissenschaft Karriere macht, war eine absolute Seltenheit. Die vor 140 Jahren in Wien geborene Lise Meitner konnte nur extern die Matura absolvieren. An der Uni in Berlin musste sie 1906 über die Hintertreppe ihr Institut aufsuchen. Die Physikerin legt in der Zwischenkriegszeit eine beispiellose Karriere hin und gilt als Entdeckerin der Kernspaltung. Bei einem legendären Weihnachtsspaziergang 1938 in Schweden fand sie gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch die Erklärung für ein seltsames Phänomen, auf das ihre Kollegen Otto Hahn und Fritz Straßmann bei der Bestrahlung von Uran gestoßen waren. Hahn erhielt den Nobelpreis, Meitner, die überspitzt als die „Mutter der Atombombe“ in die Geschichte einging, blieb die Ehrung verwehrt. Ein Angebot, am Bau der Bombe mitzuarbeiten, schlug sie aus.
48 Mal wurde sie später für den Nobelpreis nominiert. „Dank der heutigen Quellenlage“, schreiben David Rennert und Tanja Traxler in ihrer akribisch recherchierten, lesenswerten Biografie, „ist offenkundig, dass ihre Nicht-Berücksichtigung weniger wissenschaftlich begründet war, denn von äußeren Faktoren beeinflusst worden ist.“ Intrigen innerhalb der Nobelpreis-Jury und die Tatsache, dass sie eine Frau war, trugen wesentlich dazu bei, dass sie nicht zum Zug kam. Michael Jungwirth

David Rennert, Tanja Traxler. Lise Meitner, Pionierin des Atomzeitalters. Residenz, 224 Seiten, 24 Euro.

Ein Jahrhundert in einem Buch

Ein Jahrhundert in einem Buch Das große österreichische Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu. Ein guter Zeitpunkt, noch einmal auf dieses Jahrhundert zu blicken. Der ehemalige ZiB-Moderator Hubert Nowak geht dies in seinem Buch an, aber nicht in voller Länge, sondern in Augenblicken. Verbunden mit Interviews präsentiert er spannende und neue Details, die einen Überblick über die Entwicklung Österreichs geben und erklären, wie das Land seine Rolle fand.

Hubert Nowak. Ein österreichisches Jahrhundert. Molden, 255 Seiten, 27,90 Euro.

Historisches zum Brexit

Historisches zum Brexit In der Diskussion um den Austritt der Briten aus der EU wird oft über die historischen Untiefen des Verhältnisses zwischen Kontinentaleuropa und UK geredet. Doch worin besteht genau diese Kluft? Ralf Grabuschnig hat die Geschichte dieser Reibereien aufgeschrieben. Der Villacher, der in München lebt, erzählt anekdotisch und witzig geschrieben, warum diese Abnabelung eigentlich nur die logische Folge ist, wenn man sich mit der britischen Geschichte einmal genauer beschäftigt. IH

Ralf Grabuschnig. Endstation Brexit. Tectum-Sachbuch,200 Seiten, 19,40 Euro.
Buchtipps

Eine Einschätzung

Eine Einschätzung Österreich diskutiert über ein Kopftuchverbot – hier persönliche Stellungnahmen von unterschiedlichsten muslimischen Frauen dazu.

Amani Abuzahra. Mehr Kopf als Tuch. Tyrolia, 144 S., 14,95.

Eine Streitschrift

Eine Streitschrift Querdenker Halbfas kritisiert katholische Kirche gleich wie evangelische. Man muss nicht seiner Meinung sein, Denkanstoß ist es allemal.

Hubertus Halbfas. Kurskorrektur. Patmos, 208 S., 20 Euro.

Ein Plädoyer

Ein Plädoyer Turbokapitalismus, Migration, Alter, gescheiterte Beziehungen – Pfarrer Wolfgang Picken plädiert in seinem Buch für ein gemeinsames Handeln.

Wolfgang Picken. Wir. Verlag Gütersloh, 225 S., 18 Euro.

Eine Liebeserklärung

Eine Liebeserklärung Sein neues Buch widmet Theologe und Psychotherapeut Arnold Mettnitzer dem Lesen – samt der Erkenntnis, dass Worte oft in die Seele eines Menschen blicken lassen.

Arnold Mettnitzer. Buch & Seele. Styria, 128 S., 16 Euro.

Schulterblick beim Meister

Schulterblick beim Meiste Bei Pieter Bruegel dem Älteren kratzt man lieber nicht an der Oberfläche, zumindest nicht bei seinen Werken. Der Ausstellungskatalog zur sehenswerten Werkschau im Kunsthistorischen Museum in Wien hat sich dafür ganz dem Tiefgang verschrieben. Wir dürfen in die Bilder eintauchen und noch unbekannte Welten entdecken.

Kunsthistorisches Museum. Bruegel – Die Hand des Meisters. KHM, 304 Seiten, 39,95 Euro.
Schulterblick beim Meister

Ohne Wahrheit kein Himmel

Bischof Reinhold Stecher findet klare Worte, wenn es um die NS-Zeit geht, denn: „Die Wahrheit kann beschämend sein, aber sie macht wachsamer für Gefahren.“ Von Monika Schachner

Ohne Wahrheit kein Himmel Zum 80. Mal jährt sich am 9. November die Reichspogromnacht, in der Tausende Synagogen und Bethäuser in Flammen aufgingen, unzählige Geschäfte, Wohnungen, jüdische Friedhöfe zerstört und Hunderte Menschen getötet wurden. Sie steht am Beginn jenes Buches, in dem Erinnerungen des langjährigen Tiroler Bischofs Reinhold Stecher an Diktatur und Krieg gesammelt und neu geordnet sind.
Es ist eine Kombination aus Persönlichem, etwa die Fassungslosigkeit der Mutter über das NS-Regime, aber auch Analytisches: „In der Kristallnacht hat der nationalsozialistische Staat sozusagen vor der Weltgeschichte feierlich seine Visitenkarte abgegeben, den Ausweis mit der fundamentalen Auflösung des Rechtsstaats.“ Wobei einer der großen Kirchenmänner des 20. Jahrhunderts in Österreich ebenso den christlichen Antijudaimus direkt anspricht, denn: „Wenn man in die Welt mehr Licht bringen will, darf man dem belastenden Schatten der Vergangenheit nicht ausweichen.“
Eindrücklich sind auch die Zeichnungen im Buch, das Paul Ladurner nun, gut fünf Jahre nach Stechers Tod, herausgegeben hat: Schwarze Figuren, die die Hände zum „Heil Hitler“-Gruß erhoben, sich vor dem Goldenen Dachl versammeln, umrahmt von Hakenkreuzfahnen. Im Vordergrund: ein Kreuz ...
Und der Oberhirte bezieht Stellung: „Wir haben nie daran geglaubt, dass es zwischen Christentum und Nationalsozialismus je einen Kompromiss geben konnte. Darum haben wir den Versuch Kardinal Innitzers, mit einer Gefälligkeitserklärung das Schlimmste von der Kirche abzuwehren, nie verstanden. Aber Innitzer war nicht einfach die Kirche. Für die treue Basis der Kirche begann sofort die Verfolgung. Im Gau Tirol war sie am radikalsten.“
Stecher erzählt auch von seiner eigenen Haft im Gestapo-Gefängnis 1941 – wegen einer Protestwallfahrt – und der Zeit an der Front. Doch eine Episode überstrahlt alles: Weihnachten 1943 in Nordkarelien, unter einem unbeschreiblichen Himmel: „Es war wie eine gewaltige Show zum alten Lied ,O Heiland, reiß die Himmel auf‘.“

Reinhold Stecher. Der blaue Himmel trügt. Tyrolia, 159 Seiten, 19,95 Euro.

Ins Innerste und zurück

Bischof Reinhold Stecher findet klare Worte, wenn es um die NS-Zeit geht, denn: „Die Wahrheit kann beschämend sein, aber sie macht wachsamer für Gefahren.“ Von Monika Schachner

Ins Innerste und zurück Das Leben in Fülle haben – dieser Schlüsselsatz aus dem Johannesevangelium stellt Matthias Beck an den Beginn seines neuen Buches über christliche Spiritualität. Wie der Mensch von heute dorthin gelangen kann, entfaltet der Theologe und Arzt anhand von Bibelstellen, Erkenntnissen berühmter Theologen und eigenen Anmerkungen – etwa durch regelmäßiges Nach-innen-Hören, Gebote als Marksteine für den erfüllenden Lebensweg sowie die Liebe zu Gott, den Mitmenschen und sich selbst.

Matthias Beck. Was uns frei macht. Styria, 160 Seiten, 20 Euro.

Häppchenweise Geschichte

Köstliche Zutaten für das neue Kochbuch von TV-Köchin Sarah Wiener: Ereignisse der Weltgeschichte und die passenden Gerichte. Von Birgit Pichler

Reisen ist ihr Ding. „Jede neue Herausforderung, die Grenzen auszudehnen, gibt dem Leben Sinn, alles andere wäre langweilig“, sagte Sarah Wiener vor elf Jahren gegenüber der Kleinen Zeitung. Damals drehte sie gerade die erste Staffel der Fernsehreihe „Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener“, setzte sich in einen roten VW-Käfer und flitzte damit durch Europa. Später machte sie sich dann für eine Serie auf nach Asien. Für ihr frisch gedrucktes Buch war sie wieder am Weltenbummeln – diesmal quer durch die Geschichte: „Gerichte, die die Welt veränderten“, verknüpft historische Ereignisse mit Kochrezepten.

Gleich zu Beginn geht es kämpferisch zur Sache. Wir schreiben das Jahr 52 vor Christus. Vercingetorix, letzter Häuptling der Gallier, legt zum Zeichen der Kapitulation seine Waffen vor Julius Caesar nieder. Oder schmeißt sie vom hohen Ross, wie es die Abbildung im Buch will – das ist nicht so genau überliefert. Fakt ist, so recherchiert Sarah Wiener, dass Caesar in Alesia seinen Sieg über die Gallier so richtig auskostet. Mit Seeigeln, Austern, Drosseln, Reh und – Wildschwein. Speisen für insgesamt etwa eine Viertelmillion Menschen.

Im Anschluss an die Geschichtslektion kredenzt die Köchin einen Wildschweinbraten zum Nachkochen. Das Rezept mag zwar erst im zweiten Jahrhundert nach Christus von einem Römer notiert worden sein, aber vielleicht schmeckte es genau so – damals in Alesia. Spannend ist es auf jeden Fall, auf diesem Weg in die Weltgeschichte einzutauchen. Sich einmal nicht mittels bewegter Bilder in die Zeit zurückzuversetzen, sondern beim Kochen. Wenn einem die Gewürze in die Nase steigen wie schon den Köchinnen und Köchen berühmter Männer. Unter den 33 Persönlichkeiten finden sich nur wenige Frauen, was die Autorin gleich zu Beginn kritisch vermerkt: „Frauen durften im Verlauf der Menschheitsgeschichte die meiste Zeit weder Bildung genießen noch Talenten (...) folgen.“ Weiter geht es also mit großen Männern – etwa mit Napoleon und dem „Huhn Marengo“, das sein Leibkoch nach dem Sieg gegen die österreichischen Truppen zubereitete, der Nudelsuppe von Edmund Hillary, die er löffelte, bevor er den Mount Everest bezwang, oder der Eierspeise, die Paul McCartney zum Welthit „Yesterday“ inspiriert hat. Apropos, inspiriert wurde die Köchin in der Auswahl durchaus von Zeitgenossen wie etwa Günther Jauch, der in der Sendung „Wer wird Millionär“ die Frage nach dem Letzten Abendmahl stellte.

Ihre Intention, überhaupt Kochbücher zu schreiben, erklärte die 56-Jährige einmal so: „Ich wäre froh, wenn die Leute mehr kochen würden.“ Mit Geschichtshappen als Beilage macht das (Nach-)Kochen mit Sicherheit Spaß.

Häppchenweise Geschichte Sarah Wiener.Gerichte, die die Welt veränderten. edition a, 288 Seiten, 24,90 Euro

Eine Hommage an die Andenküche

Eine Hommage an die Andenküche Als „südamerikanisches Küchenwunder“ wird Peru gern bezeichnet, weil sich die Köche des Landes seit rund 15 Jahren beharrlich unter die weltbesten mischen. Doch es ist die einfache Küche, die Martin Morales als Kind in Lima so gut schmeckt, dass er sich Jahre später dazu entschließt, eine Liebeserklärung in Kochbuchform zu verfassen. So gelingt dem Küchenchef ein Querschnitt aus traditionellen Rezepten und neuen Kreationen – gut nachvollziehbar und mit den Produkten zu schaffen, die man hierzulande bekommt. Seit 20 Jahren lebt Morales in London, schupft drei Restaurants und räumt nebenbei den „Sunday Times Cookbook of the Year Award“ ab. Nebenwirkungen: Beim Durchblättern bekommt man nicht nur Gusto, sondern auch eine gehörige Portion Fernweh ab.

Martin Morales. Andina. ZS-Verlag, 272 Seiten, 30,70 Euro.

Über die Wiege des Weins

Über die Wiege des Weins „In keinem Land wird mehr oder besserer Wein getrunken“ – so das Eingangszitat von Jean Chardin. Rund 400 Jahre sind vergangen, seit der Forschungsreisende Georgien bereiste – eine vergleichsweise kurze Zeit in der etwa 8000 Jahre zurückreichenden Weingeschichte des Landes. Dank des Slow-Wein-Trends bekommt georgischer Wein in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit. Deshalb kommt dieses Werk gerade recht, um sich einen guten Überblick zu verschaffen: Große Weinhäuser werden ebenso vorgestellt wie kleine, familiengeführte Betriebe, die ein Comeback erleben, ausführlich der Ausbau der Qvevriweine beschrieben, außerdem die wichtigsten Rebsorten und Anbaugebiete dargestellt. Informativ und sehr übersichtlich.

Anna Saldadze, Sarah Abbott (Hg.). Georgischer Wein. Stocker Verlag, 218 Seiten, 29,90 Euro.

Wie Heimat schmeckt

Wie Heimat schmeckt Wer sich mit zeitgemäßer österreichischer Küche auseinandersetzt, kommt an diesem Werk nicht vorbei. Rund 500 Rezepte sind hier versammelt – von Beef Tatar bis Salzburger Nockerl. Anschaulich illustriert mit Tabellen (z. B. Teilstücke vom Rind) und Schritt-für-Schritt-Fotos. Außerdem bestückt mit einer Menge Wissenswertem rund um die Zubereitung (Darf man Leber salzen?) und Produkte. Versehen mit Symbolen – etwa zu Schwierigkeitsgrad und fleischlosen Gerichten. Kurz: Ein fabelhaftes Standardwerk.

Bittermann/Pernkopf/Wagner-Wittula. Die Österreichische Küche. Pichler, 464 Seiten, 38 Euro.

Logbuch mit Rezepten

Logbuch mit Rezepten Als Kameramann weiß Paul Pflüger um die Macht der Bilder und so taucht man auch sofort ein, in das Leben am Meer. Geht mit 27 wind- und wettergegerbten Seemännern in ganz Europa auf Fischfang, liest Geschichten, die das Leben schreibt, und spürt dem Abenteuer und der Herausforderung Meer mit rund 50 authentischen Fischrezepten nach. Beim Essen das Buch auf den Tisch – und es schmeckt, als wäre man beim Fang dabei gewesen.

Paul Pflüger. Captain’s Dinner. Eine maritime Entdeckungsreise mit original Seemannsrezepten. teNeues, 192 Seiten, 35 Euro.
Buchtipps

Bewusst genießen

Bewusst genießen Nachhaltig in Sachen bewusster Fleischgenuss: 7 Fakten über Fleich, 70 Rezepte.

Krobath / Troißinger. Zeit für Fleisch! Das Procella-Kochbuch Löwenzahn, 208 S., 34,90 Euro.

Für Naschkatzen

Für Naschkatzen Süßes zum Nachbacken von Punschkrapferl bis Striezel. Mit Porträts der Zuckerbäcker. Charmant!

Wieser/Rathmayer. Die Wiener Zuckerbäcker. Pichler-Verlag, 176 Seiten, 28 Euro.

Trotzdem genießen

Trotzdem genießen Glutenfrei schlemmen – vom flaumigen Biskuit über Eierlikörkuchen und Heidelbeerstrudel bis Husarenkrapferl.

Tanja Gruber. Meine glutenfreie Lieblingsbäckerei. Kneipp, 160 Seiten, 22 Euro.

Den Abend feiern

Den Abend feiern Was rund um den Erdball gegessen wird, wenn die Sonne versinkt – Barfood- Kultur von Churros in Spanien bis zu Yakitori-Spießchen in Japan.

Stevan Paul. Blaue Stunde. Tapas, Antipasti, Ceviche & Apéro. Brandstätter, 240 S., 35 Euro.

Heim & Garten

Buchtipps

Die Paradiese des Glücks

Die Paradiese des Glücks Die Gärten des Orients offenbaren als Paradiese des Glücks viele künstlerische Ausdrucksformen wie Architektur, Kunsthandwerk, Malerei und Dichtung zu einem magischen Ganzen. In „Zauber des Orients“ entführt Autorin Veronika Hofer in 50 dieser orientalischen Paradiese und lädt – mit viel Information angereichert – zu einer fantastischen Reise zu den schönsten Gärten von Marokko bis Indien.

Veronika Hofer. Zauber des Orients. DVA, 224 Seiten, 41,20 Euro.


Poetische Gartenbilder

Die schönsten Gärten der Welt zeichnen sich durch exquisites Gartendesign, Leidenschaft für Pflanzen und wahre Originalität ihrer Schöpfer aus. Der australischen Gartenfotografin Claire Takacs gelingt es, die schier überirdische Schönheit dieser Gärten in magischen Momentaufnahmen einzufangen. Von Neuseeland bis ins italienische Siena, von Japan bis Kalifornien war die vielfach Ausgezeichnete für den Bildband unterwegs, im Foto der Garten von Dan Hinkley in den USA.

Poetische Gartenbilder Claire Takacs. Gartenreise um den Globus. Dreamscapes. Traumgärten aus aller Welt. DVA, 304 Seiten, 50,40 Euro.

Claire Takacs.

Blühende Schatzkammer

Aus verfallenen Gewächshäusern wurde eine Pilgerstätte für Gartenenthusiasten. Besuch in der Königlichen Gartenakademie.

Eine blühende Schatzkammer mitten in Berlin, seit zehn Jahren besteht die Königliche Gartenakademie, eine private Firma, die Gabriella Pape und Isabelle Van Groeningen als Zentrum zur Förderung der Gartenkultur und der Gartenkunst in Deutschland gegründet haben. Sie wollten für ein besseres Verständnis der Gartenkunst bei Laien, Fachleuten und Gartenliebhabern sorgen, und vor allem Kenntnisse über Pflanzen, Natur und Gestaltung vermitteln. Die beiden Gartendesignerinnen haben sich in Europa, Südamerika und Asien einen Namen gemacht.

Während ihrer Studien in England lernte Landschaftsarchitektin Pape die Gartenhistorikerin Van Groeningen kennen, mit der sie geschäftlich und privat zusammen ist.

Im Gespräch mit Biogärtner Karl Ploberger orten die beiden einen Wandel beim Gartentrend. Nicht die neuesten Sonnenschirme oder Gartengriller stünden hoch im Kurs, sondern die perfekten Kompostsilos. Die Menschen hätten verstanden, dass gar nichts geht, wenn der Boden nicht in Ordnung ist.

Auch der Verkauf von Gemüsesaatgut habe sich in den letzten Jahren verzehnfacht und den Blumenbereich überholt. „Die Menschen wollen Geschmack selbst ziehen und keine wässrigen Tomaten oder geschmacklose Gurken“, wissen die Expertinnen.

Die Gartendesignerinnen wagen auch einen Blick in die Zukunft: „Obst und Gemüse muss in jedem Garten Platz finden. Auch auf dem Balkon und auf der Terrasse darf es daran nicht fehlen“, so ihr Standpunkt. Einig sind sie sich auch im Kampf gegen die Kieswüsten: „Das Zudecken des Bodens macht die Erde kaputt. Richtig angelegt, ohne Folie darunter und mit den richtigen trockenheitsliebenden Pflanzen ist das wahrscheinlich eine der wichtigsten Entwicklungen.“

Ihren Anteil an kluger Gestaltung steuern die Gartendesignerinnen mit einem kostengünstigen Planungsprojekt bei: „Es ist ab einem Euro pro Quadratmeter für jeden leistbar und es passieren keine gravierenden Fehler. Die künftigen Gartenbesitzer müssen dabei eifrig mitarbeiten und ein Storyboard mit vielen Bildern aus Gartenmagazinen erarbeiten“, berichten die beiden und freuen sich über neue, grüne Paradiese.

Unser Biogärnter

Karl Ploberger traf in Berlin die beiden Gartenexpertinnen Gabriella Pape und Isabelle Van Groeningen in ihrem Gartenreich.

Zur Seele des Waldes finden

Schulterblick beim Meiste Wer richtig in den Wald eintaucht, tut etwas für seine Gesundheit – in Japan gilt Waldbaden als Medizin. Der einstige Sehnsuchtsort, der zum Holzwirtschaftsraum verkommen ist, soll nun zum Behandlungszimmer für Naturmedizin werden. Die Forschung dazu läuft gerade an. Werner Buchberger, seit 35 Jahre Förster im Innviertel, legt dazu sein nächstes Waldbadebuch vor.

Werner Buchberger. Natur verbunden leben. Waldbaden 3.0. Freya Verlag, 160 Seiten, 16,90 Euro.