Diese Geschichte rund um den „Tichborne-Anwärter“ hatte wirklich alles zu bieten: „Feine Pinkel, Katholiken, Geld, Unzucht, Verwechslungen, eine Erbschaft, hochrangige Richter, Snobs, ferne Länder...“ Der Fall in Kurzform: London im Jahr 1873: Ein ausgewanderter Fleischer, Arthur Orton, behauptet, er sei der verschollene Erbe eines alten Adelsgeschlechts. Rund um diese Affäre und den Prozess darüber hat die britische Schriftstellerin Zadie Smith einen historischen Roman verfasst, der zwar in der Vergangenheit spielt; die politischen, sozialen und moralischen Verwerfungen sind aber zeitloser Natur und das Buch reich an Anspielungen auf gegenwärtige Widrigkeiten und Malaisen.
Dieser literarisch herausragende Roman lässt sich auf mehreren Ebenen lesen, ist auf höchstem Niveau hinterlistig und trügerisch, keine Sekunde darf man sich als Leser auf sicherem Terrain wähnen. Smith schafft etwas, woran andere Autoren grandios gescheitert sie. Sie verbindet eine grandiose erzählte Geschichte mit gesellschaftspolitischen Themen, die ebenfalls noch in der Jetztzeit relevant sind. In „Betrug“ geht es nicht nur um Antisemitismus, Kapitalismus, Rasse, Geschlecht, Kolonialismus und „hebräische Pfandleiher“, sondern auch um Verschwörungstheorien, Schwurbler und Fake News. Und vor allem hat der Fall Tichborne auch mit Großbritanniens Verhältnis zur Ex-Kolonie Jamaika zu tun. In einer Parallelhandlung geht es um Tichbornes ehemaligen Sklaven Andrew Bogle, an dessen Schicksal knüpft Zadie Smith – deren Mutter aus Jamaika stammt und 1969 nach England kam – Themen wie Sklaverei und koloniales Erbe.
Es ist nicht leicht, in dieses fein gesponnene Wirrwarr an Geschichte und Geschichten hineinzufinden; jedoch ein großes, herausforderndes Vergnügen, sich an den Grenzverläufen zwischen Wahrheit und Fiktion entlang zu bewegen. Hauptfigur des vielschichtigen Romans ist die schottische Haushälterin Eliza Touchet, die Cousine des einstmals erfolgreichen Schrifstellers William Ainsworth. Eliza ist eine schillernde, unkonventionelle Figur, hatte eine Verhältnis mit Ainsworths erster Frau und eine Beziehung mit dem Schriftsteller selbst. Eliza Touchet ist eine Frau, die das Wort „Selbstermächtigung“ vermutlich nicht kennt, aber sie tatkräftig lebt. Den viktorianischen Dichter-Zirkel inklusive Charles Dickens und William Makepeace Thackeray beschreibt sie scharfzüngig als das, was er ist: ein Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Mit der zweiten Frau von William Ainsworth besucht Eliza Touchet auch die Tichborne-Prozesse und wird immer tiefer in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Die Boulevardpresse hat den Fall Tichborne damals zu einem klassenkämpferischen Spektakel hochstilisiert. Die instrumentalisierte, aufgepeitschte Masse ist auf den Betrug hereingefallen, das Gericht nicht. Arthur Orton wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
