Selfie-Wahnsinn im Grazer Kunsthaus: Alle wollen Ai Weiwei sehen, der zur Eröffnung der Ausstellung „Geknetetes Wissen“ gekommen ist.

Überraschung: Sie sind in der Ausstellung nicht nur als Künstler, sondern auch als Co-Kurator präsent. Wie kam es denn dazu?

AI WEIWEI: Der Kurator ist natürlich Peter Pakesch. Aber wir sind befreundet, und als Intellektueller setzt er eben auf Austausch.

Pakesch sagt, die Schau verdanke Ihnen eine exzellente Auswahl alter chinesischer Keramik.

AI: Ohne falsche Bescheidenheit: Ich kenne mich mit chinesischen Antiken ganz gut aus.

Die zeitgenössischen Künstler der Schau gehören mehrheitlich dem westlichen Kulturkreis an. Sehen Sie sich als Künstler mit Eurozentrismus konfrontiert?

AI: Ich nehme das nicht so wahr. Die zeitgenössischen Zugänge der Kunst wurden ja in Europa begründet. Grundideen wie persönliche Freiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung sind zentrale Kennzeichen der Gegenwartskunst. Davon bin ich geprägt. Auch, weil ich zwölf Jahre in New York gelebt habe. Aber natürlich bin ich auch Chinese, und das eigene Erbe ist wohl der stärkste Einfluss, den man haben kann. Ich bin jetzt fast 60 und beginne gerade, das zu verstehen.

Ihre künstlerischen Arbeiten führen fast immer andere aus - wie die 100 Millionen handbemalten Sonnenblumenkerne aus Ton, die Sie 2010 für die Tate Modern in London fertigen ließen. Haben Sie je selbst Hand an Lehm gelegt?

AI: Ich verbrachte 1976, ehe ich an die Universität ging, einen Monat in einer Porzellanwerkstatt bei einem alten Meister. Eine hochinteressante Erfahrung. Die Tonwaren wurden erst tagelang erhitzt, dann tagelang abgekühlt. Eine fast magische Erfahrung, mitzuerleben, wie die Temperatur das Material verwandelt. Aber an sich habe ich zum Handwerk keine Beziehung, mir macht das keine Freude. Daher nehme ich gern die Hilfe anderer in Anspruch.

Trotzdem haben Sie ein besonderes Verhältnis zu Keramik?

AI: Als ich 1993 nach zwölf Jahren New York zurück nach China kam, hatte ich nichts zu tun. Also fing ich an, Keramik zu sammeln, beginnend mit neusteinzeitlichen Objekten. Man sieht an ihnen, wie sich die Formgebung entwickelt, wie zur Zeit der chinesischen Kaiserreiche höchste Standards entstehen: Man stellt ein gutes Objekt her und zerbricht die restlichen 100.

Sie arrangieren in der Ausstellung die Schnäbel solcher zerbrochenen Teekannen so, dass sie wie ein Knochenteppich aussehen.

AI: Es hat mich interessiert, dass so viel absichtlich zerbrochen wurde. Nicht nur, um den Kaiser zufriedenzustellen, sondern aus einem quasi mystischen Anspruch höchster Kunstfertigkeit. Ich finde es faszinierend, dass der Mensch imstande ist, etwas derart Unnützes zu tun. Die Auseinandersetzung damit halte ich für interessanter, als selbst kunstvolle Objekte herzustellen.

Zu einer Ihrer bekanntesten Aktionen zählt ja das Gegenteil: das absichtliche Zerbrechen einer Vase aus der Han-Zeit.

AI: Ach, ich hatte durch meine Sammeltätigkeit ja viele solche Stücke und ohnehin keinen Platz mehr, um sie aufzustellen (lacht).

Die Aktion wurde weithin als Kommentar zur chinesischen Kulturrevolution wahrgenommen, bei der gezielt historische Objekte zerstört wurden. War das der Startpunkt Ihrer Auseinandersetzung mit dem chinesischen Regime?

AI: Ich hatte viele Gründe, ein Rebell zu werden. (Ai ist der Sohn eines politisch verfolgten Dichters, Anm.) Aber ich habe das erst gar nicht bewusst in meine Kunst eingebracht. Auch auf einem Foto dem Tiananmen-Platz den Mittelfinger entgegenzustrecken, war eine Aussage persönlicher Ohnmacht. Getätigt aus Zorn darüber, dass sich nichts ändert.

2008, nach dem Beben in Sichuan, als Tausende Todesfälle vertuscht wurden, legten Sie sich aber bewusst mit der Regierung an?

AI: Das hat mich extrem motiviert. Ich wandte all meine Energie bewusst dafür auf, das kommunistische Regime anzugreifen. Ich unterlag der Illusion, dass wir dank Internet an der Kippe zur Revolution stehen. Dann hat China das Internet einfach abgedreht. Es gibt da jetzt nur noch ein lokales Netz, kein Google, Facebook oder Instagram. Ich habe mich also ganz schön getäuscht.

2011 versuchte man Sie durch 81 Tage Isolationshaft zum Schweigen zu bringen, 2015 konnten Sie nach Berlin ausreisen. Dringen Sie noch nach China durch?

AI: Natürlich. Fast jede meiner Ausstellungen ist auch für die chinesische Öffentlichkeit gemacht. Auslandschinesen posten die Info im chinesischen Web. Auch zu meiner Ausstellungseröffnung in Florenz vor wenigen Tagen kamen viele Chinesen.

Sie brachten dort an der Fassade des Palazzo Strozzi 22 Rettungsboote an. Derzeit befassen Sie sich intensiv mit der Flüchtlingsfrage.

AI: Klar. Es ist mir wichtig, in aller Öffentlichkeit Aussagen zu unserer Wirklichkeit zu treffen.

In Florenz waren die Reaktionen teils heftig ablehnend.

AI: Ja, das war nicht einfach. Aber die Stadt ist ein Museum, ganz Italien ist ein Museum. Die Öffentlichkeit auf diese Art zu konfrontieren, war ein gewisses Risiko. Aber ich will, dass jede meiner Arbeiten hinterfragt wird. Ich bin eben kontroversiell - ich mag den Begriff, weil er meine eigene Verfasstheit so gut beschreibt.

Sie sagten einmal, persönliche Freiheit sei die Voraussetzung aller Kunst. Stimmt das noch?

AI: Das ist nur die halbe Wahrheit. Einerseits geht es natürlich um persönliche Freiheiten und die Kämpfe, die man dafür austrägt. Aber darüber hinaus muss es in der Kunst auch darum gehen, die Grundwerte der Menschlichkeit zu verteidigen. Schwierig genug, wenn man sich ansieht, dass es uns bis heute nicht gelungen ist, Hunger und Krieg zu überwinden.

Sehen Sie dennoch Grund zur Hoffnung auf die Zukunft?

AI: Unbedingt. Ich sehe gar keine andere Möglichkeit. Denken Sie an unsere Kinder, sie alle erwarten, dass ihnen nur Gutes widerfährt. Daran müssen wir arbeiten.

Können wir auch darauf hoffen, dass die Kunst hilft, Missstände zu verändern?

AI: Das weiß ich nicht. Ich bin da skeptisch. Aber meine Kunst geht jedenfalls in diese Richtung.

In einer deutschen Zeitung stand unlängst, Sie seien der berühmteste lebende Chinese. Ist das eine Belastung für Sie?

AI: Gottlob kann ich keine deutschen Zeitungen lesen, ich weiß also nicht, wie berühmt ich angeblich bin. Aber mir fällt auf, dass immer öfter Deutsche auf mich zukommen, um mir die Hand zu schütteln. Mir tun schon die Knochen weh. Die Deutschen sind nett und sehr leidenschaftlich in ihren Überzeugungen. Aber sie langen wirklich fest zu.