Adel Dauood war mir unbekannt, bis ich im Jahr 2018 seine Bilder auf Fotografien sah. Doch von da an gingen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf den ersten Blick weckten die feinsinnigen Farbkompositionen meine Neugier. Dann erst erinnerten mich die Bilder an Ängste aus meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg und die Bedrängnisse meiner Schulzeit und ich dachte: Hieronymus Bosch! Allerdings entdeckte ich keinen religiösen Hintergrund in den Abbildungen. Fast gleichzeitig fiel mir aber die Sintflut ein. Und als nächstes ein Filmstreifen vom Tsunami in Thailand aus dem Jahr 2004. Dann wiederum kamen mir die „Wimmelbilder“ von Pieter Brueghel d. Ä. in den Sinn, wie „Die niederländischen Sprichwörter“ und „Die Kinderspiele“ und ebenso meine Phantasien bei Nachrichten über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer. Gleich darauf waren es andere Gemälde, diesmal von Alfred Kubin und Zoran Music, die vor meinem inneren Auge „auftauchten“.

Adel Dauoods Bilder sind jedoch so eigenständig und zugleich eigensinnig, dass man sie nicht vergisst. Die Kunstwerke der Maler, die mir eingefallen waren, lösten sich in meinem Kopf gleich wieder auf, ebenso wie meine Erinnerungen an die genannten Katastrophen. Zurück aber blieb das Triptychon Dauoods: „Die Flut“. Seltsam war, dass die Bilder auf den ersten Blick farbig und „schön“ gewirkt hatten und schon von weitem eine starke Anziehungskraft ausübten. Doch der 40-jährige Künstler aus Syrien machte in ihnen seine persönlichen Albträume sichtbar.

Dauood ist ein zurückhaltender, introvertierter, höflicher Einzelgänger. Er arbeitet in seiner Zweizimmerwohnung in Wien. Einer der Räume ist das Atelier, der andere sein Wohn- und Schlafplatz. Dauood ist nicht polemisch oder ideologisch. Seine Bilder sind einfach „wahrhaftig“ – so kompliziert die Wahrheit auch sein mag. Als ich endlich die Originale mit ihren großen Formaten sah, war ich von der Sensibilität, mit der jedes Detail ausgeführt war, und der Wucht der Darstellung beeindruckt. Die Farbe Gelb dominierte. Meine Empfindungen waren dieselben, die ich immer habe, wenn ein Kunstwerk MICH durchschaut und ich zum ersten Mal vor ihm stehe, ganz gleich, ob es von Francis Bacon, James Ensor oder Anselm Kiefer ist. Immer stellt sich nach den suchenden Blicken auch so etwas wie ein Aufatmen ein und eine neugierige Betrachtungslust, die aus einem Gemälde und einer Skulptur das Kunstwerk erst zu einem Teil meines Lebens machen.

Das Anfangsbild des Triptychons „Flut“ ist in aller Schauerlichkeit auch ein „Karneval des Todes“ – als würde ein Puppenspieltheater mitten in der Aufführung von einer Flutwelle überschwemmt. Oder sind es Touristen, die bei einem Maskenball an Deck eines plötzlich untergehenden Schiffes ins Meer stürzen? Der Mittelteil, der das größte Format aufweist, zeigt den vergeblichen Kampf der Ertrinkenden mit dem Wasser. Die Gesichter sind selbst zu Masken geworden und man bedauert jeden einzelnen. Zuletzt das eindrucksvolle Bild, das die letzten Sekunden der Opfer zeigt. Die Betroffenen sind zu nackten, im Meer treibenden Körpern geworden. Sie wenden dem Betrachter nicht mehr ihr Gesicht zu.

Außerdem gibt es sechs Fabelwesen, kohlschwarze Dämonen, die Dauood entworfen hat. Sie haben vier, sechs, acht oder zehn Augen und zwei bis sechs Gliedmaßen, und alle sind Monster. Die tierischen Gestalten könnten jedoch ebenso mikroskopisch klein sein wie Viren. Ich stelle mir vor, dass sie gerade die Bilder träumen, die Adel Dauood gemalt hat, oder dass sie dabei sind, sie zu verwirklichen. Die Zeichnungen von Dauood gehen gleichfalls, wie man sagt, „unter die Haut“. Sie wirken wie Schreckensvisionen aus dem Untergrund der Gedankenwelt.

Aber es könnten auch Leichname auf dem Meeresgrund sein. Oder Opfer eines Krieges. Der Künstler zeigt sie als Spiegelbilder unserer Gedanken. Das Eigenartige daran ist, dass man beim Anblick der flüchtigen Erinnerungsfragmente auch so etwas wie Befreiung empfindet, weil sie endlich sichtbar geworden sind.

„Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir grad noch ertragen, und wir bewundern es so, weil er es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich“, schreibt Rainer Maria Rilke in den „Duineser Elegien“. Wenn ich von einem Kunstwerk in seinen Bann gezogen werde, entsteht in mir der Drang, selbst zu schreiben. Wie es jetzt bei Adel Dauood der Fall ist.