Sie haben als Islamwissenschaftler, Historiker und Journalist langjährige und intensive Syrien-Erfahrung. Was fasziniert Sie so an diesem Land?
LUTZ JÄKEL: Syrien ist für mich das vielfältigste und spannendste Land in der arabischen Welt. Es ist ein kulturell, historisch und vor allem menschlich sehr reiches Land. Das wissen bei uns leider nur die wenigsten.

Wenn Sie die Augen schließen: Welches Bild von Syrien entsteht da vor Ihren Augen?
Dann streife ich, wie ich es so oft gemacht habe, durch den Suq von Damaskus, höre die Rufe der Händler, rieche frisch geröstete Nüsse und Gewürze wie Kardamom oder Kumin. Dann gehe ich durch die Gassen der Altstadt, rieche frisch gebackenes Brot, sehe zwei Männer vor einem Laden sitzen und Backgammon spielen. Dann ertönt der Ruf des Muezzins der Omaijaden-Moschee, er hallt über die ganze Altstadt, dann höre ich ein leises Läuten der Glocken einer Kirche im christlichen Teil der Altstadt. Schließlich gehe ich syrische Freunde besuchen und genieße die Köstlichkeiten syrischer Küche und gute Gespräche.

Wann waren Sie das letzte Mal in Syrien?
Kurz vor Beginn der ersten Demonstrationen, also im Frühjahr 2011, als man vom sogenannten Arabischen Frühling sprach. Die Diktatoren in Tunesien und Ägypten waren gestürzt, dadurch ermutigt gingen auch die Menschen in Syrien auf die Straßen, um gegen Unterdrückung und Korruption, für Freiheit und Würde zu demonstrieren. Das wurde sehr schnell und sehr brutal unterdrückt. Daraus hat sich dann der Krieg entwickelt.

Warum ist das so eskaliert? Die Menschen wollten Freiheit und Würde, politische Veränderungen. Diese Bestrebungen wurden brutal unterdrückt, so wie seit fünf Jahrzehnten, seit der Assad-Clan an der Macht ist, politische Freiheiten unterdrückt werden. Die Menschen wehrten sich, irgendwann auch mit Gewalt. In mehreren Stufen entwickelte sich daraus der Krieg, der sich immer weiter internationalisierte. Heute haben alle großen Akteure der Welt ihre Finger mit in diesem brutalen Spiel aus Machtinteressen auf Kosten der syrischen Bevölkerung. Daher spreche ich auch stets von einem Krieg in Syrien, nicht von einem Bürgerkrieg.Römische Provinz

Hauptstadt eines Kalifats

Kreuzritter

Osmanische Besetzer

Französisches Mandat

Assad-Erbfolge

Demonstrationen und Krieg

IS-Terror

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Fotos aus Syrien von heute, von Zerstörung, Leid und Krieg sehen?
Wie soll es da einem gehen? Ich empfinde Trauer und Schmerz. Aber auch Wut darüber, dass es die Weltgemeinschaft nicht vermag, diesem fürchterlichen Krieg ein Ende zu setzen. Die Möglichkeiten hätte sie. Stattdessen geht das Zerstören und Töten weiter, Hunderttausende Menschen sind weiter auf der Flucht, und wie es aussieht, wird sich Diktator Baschar al-Assad an der Macht halten können, trotz der Kriegsverbrechen. Es ist eine reine Tragödie.

Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat 2015 die antike Oasenstadt Palmyra zerstört, auch die nordsyrische Stadt Aleppo gilt heute als Chiffre für Zerstörung. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Ich war geschockt. Ich war unzählige Male in dieser faszinierenden Wüstenmetropole des alten Orients. In Palmyra wurden aber „nur“ alte Gebäude zerstört. Schlimm genug, aber Menschenleben zerstören ist ungleich schlimmer. Deshalb hat mich die Zerstörung von Teilen Aleppos mehr erschüttert, weil klar war, dass dort auch Tausende Menschen ums Leben gekommen sind.

Welche Rolle spielt die Religion im syrischen Konflikt?
Ein Religionskrieg ist der Krieg in Syrien ganz sicher nicht. Religion ist oft ein vorgeschobenes Machtinstrument. Dass Religionen aber auch verbindend sein können – auch das hat sich in Syrien schon immer gezeigt.

Lutz Jäkel: "Syrien ist für mich das vielfältigste und spannendste Land in der arabischen Welt."
Lutz Jäkel: "Syrien ist für mich das vielfältigste und spannendste Land in der arabischen Welt." © Jäkel
Leben vor dem Krieg: In der Altstadt von Damaskus
Leben vor dem Krieg: In der Altstadt von Damaskus © Lutz Jaekel

Gerade Damaskus ist diesbezüglich ein Brennpunkt: In den Bergen vor der Stadt soll Kain Abel erschlagen haben, hier liegt der Schrein von Johannes dem Täufer, hier soll Saulus zum Paulus bekehrt worden sein. Damaskus war aber auch Hauptstadt des ersten islamischen Reiches. Die Stadt galt lange als Ort, an dem verschiedene Lebens- und Religionsmodelle nebeneinander existieren konnten. Wie konnte das alles in Brüche gehen?
Das trifft nicht nur für Damaskus zu, das gilt insgesamt für den syrischen Raum, auch für das moderne Syrien. Es stimmt, teilweise ist das in die Brüche gegangen, und es bleibt abzuwarten, wie dieser Bruch wieder gekittet werden kann. Aber das hat wenig mit Religionen selbst zu tun, sondern ist vor allem ein brutales Machtspiel, in das auch Religionen gezogen werden.Gibt es einen Ausweg?
Es gibt immer einen Ausweg aus einem Konflikt oder aus einem Krieg, das hat die Geschichte ja hinlänglich gezeigt, auch und vor allem in Europa. Man muss es nur wollen. Leider ist gerade der Nahe Osten ein Schauplatz brutaler Machtinteressen der Großmächte, aber auch der lokalen Herrschaftsclans, die in der Regel autokratisch oder diktatorisch regieren. Häufig mit direkter oder indirekter Unterstützung durch die eine oder andere Großmacht. Das zeigt sich auch in diesem Krieg: Ohne Russland wäre Assad schon längst Geschichte.Wie kann wieder Frieden gefunden werden?
Gerade Syrien hat über seine lange Geschichte gezeigt, dass es trotz Konflikten und Kriegen auch lange Friedensphasen gab – und dadurch eine reiche Kulturentwicklung, von der übrigens auch Europa profitierte. Europa war in seiner langen Geschichte ja nicht weniger friedlich oder mehr kriegerisch als die Länder des Nahen Ostens. Ich behaupte sogar, dass die brutalsten Kriege dieser Welt eben in Europa wüteten. Das scheinen wir manchmal gerne zu vergessen, nur weil es schon ein bisschen her ist und im Nahen Osten noch immer Kriege herrschen. Daher wird gerade die Kulturentwicklung im Nahen Osten natürlich auch dazu führen können, ein friedliches Leben zu führen. Wenn alle Akteure, auch die internationalen, mitspielen.

Damaskus in Trümmern: Zerstörung durch den Krieg
Damaskus in Trümmern: Zerstörung durch den Krieg © APA/AFP/LOUAI BESHARA

Sie haben die Hoffnung also noch nicht verloren?
Natürlich nicht. Die Konflikte und der Krieg in Syrien können ja nicht ewig so weitergehen. Ich hoffe daher, dass die Weltgemeinschaft endlich erkennt, dass den Menschen in dieser Region und vor allem in Syrien echte Freiheit und Würde ermöglicht werden müssen. Nur so kann es dauerhaft zur Ruhe kommen. Auch wenn der eine oder die andere in unseren Breitengraden etwas anderes wahrnehmen wollen: Auch die Menschen im Nahen Osten lieben und wollen ein ganz normales und friedliches Leben. Es ist eigentlich ganz einfach.Der Krieg trifft Europa in Form von Flüchtlingen aus dieser Region. Dieses Thema hat nicht zuletzt zu einer politischen Polarisierung geführt. Verstehen Sie die Vorbehalte vieler in unseren Breiten?
Ich verstehe, dass viele Menschen, die nichts wissen über Syrien, Vorbehalte entwickeln können, weil ihnen aus den Medien nur Krieg und eine undefinierbare Masse von Geflüchteten vermittelt wird. Das ist für viele fremd, macht einigen womöglich auch Angst. Wofür ich kein Verständnis habe, ist, diesen Menschen, die aus einem Krieg in großer Not zu uns fliehen, mit grundsätzlicher Ablehnung gegenüberzutreten. Nicht wenige entwickeln daraus sogar Hass, der diesen Menschen entgegenschlägt. Man sollte aber diesen Menschen auch zuhören, denn dann stellt man schnell fest, dass bei allen Kultur- und Mentalitätsunterschieden, die es gibt, sehr viel mehr Verbindendes existiert. Konzentriert man sich mehr auf das Verbindende als auf das Trennende, ist es nicht mehr so fremd. So kann man Brücken bauen. Darin sehe ich auch meine Aufgabe mit meiner Live-Reportage über Syrien: den Menschen ein Syrien zu zeigen, das sie so nicht erwarten und auch nicht kennen, um dann Brücken bauen zu können.

Setzt die europäische Politik richtige Signale und Taten?
Dass Europa oder namentlich die EU keinen einheitlichen Weg findet, diesen Menschen zu helfen, sich einige Länder schlicht weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, ist eine Schande für die EU.

Syrien vor dem Krieg: ein liberales, weltoffenes Land zwischen Mittelmeer und Mittlerem Osten
Syrien vor dem Krieg: ein liberales, weltoffenes Land zwischen Mittelmeer und Mittlerem Osten © Lutz Jaekel