Die Seine ist nur etwas für Verzweifelte oder Verliebte, schrieb Aragon. Am Abend des 14. April waren selbst die Verliebten verzweifelt. Wir standen auf dem Pont Louis-Philippe, der rechts der Seine einen majestätischen Blick auf das Herz der Stadt gewährt, eine bunte Menge von Passanten, Paris-Besuchern, Neugierigen, Journalisten, alle herbeigeeilt, weil sie die Nachricht nicht glauben konnten: Notre-Dame brennt? Fremde Menschen blickten sich an und stellten einander Fragen: Was ist passiert? Warum löschen sie nicht? Warum tun sie denn nichts? Viele schwiegen, einige weinten, wenige schrien. Alle waren wir fassungslos. Der Spitztu    rm schien wie von innen beleuchtet, dann bleckten die Flamen durch das filigrane Werk hindurch. Vor unseren Augen neigte er sich zur Seite, Richtung Norden, brach ab, löste sich auf, verschwand. Die Sonne, die noch hoch stand, war plötzlich verdeckt von Rauchwolken. Das Blei des Daches stand wie eine Säule schwefelgelb im Himmel und es fühlte sich an, als habe jemand die Tore zur Hölle geöffnet.

Ich habe in Frankreich gelernt, dass materielle Verluste nicht als Verluste gelten. Alles nur Sachschaden, sagen die Franzosen, wenn sie sich über Missgeschicke, Unfälle, Katastrophen hinwegtrösten wollen, bei denen niemand verletzt oder getötet wurde. Aber dieser Sachschaden war anders. Notre-Dame, das spürte die Welt an diesem Abend, ist mehr als nur ein Bauwerk. Notre-Dame ist Kulturerbe. Die Kathedrale ist Katholizismus, Tradition, Transzendenz, Schönheit und Stolz. Man kann auch sagen: Sie ist ein Stück von uns, sie macht uns aus. Identität nennt man das. Als die Fernsehsender der Welt ihre Direktschaltungen machten, als alle Augen an diesem Abend bangend auf Paris gerichtet waren und die Spendenversprechen regneten, begriffen wir, dass wir etwas Unersetzliches verlieren würden, wenn sie nicht zu retten wäre.

Ich bin nachts um eins zurückgekehrt, der Brand schien einigermaßen unter Kontrolle, doch auf den Uferpromenaden und den Brücken der Seine standen noch immer Menschen und hielten Wache. Sie standen dort und sangen. Sie sangen leise Lieder, als würden sie jemand in den Schlaf wiegen wollen. Es waren katholische Lieder, ihr Schatz schien unendlich und alle kannten sie auswendig. Wenn eines zu Ende war, begann jemand, ein neues anzustimmen. Es war wie ein Rosenkranz aus Musik. Niemand schien sich lösen zu können. Mir ging es nicht anders. Als hinge irgendetwas ab von unserer Anwesenheit: Es war, als stünden wir am Krankenbett eines geliebten Menschen, der dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen war, und als würden wir nicht wagen, ihn kurz unbeaufsichtigt zu lassen, weil der Tod nichts Verlässliches, nichts Rationales hat. Er schlägt zu, wann und wo er will. Es war, als fürchteten wir, die Kathedrale werde sterben, sobald wir ihr den Rücken zukehrten. Im Fall von Notre-Dame de Paris bedeutete das: durch die unsägliche Hitze erneut in Flammen aufgehen, durch das Löschwasser einstürzen, einfallen, verschwinden, sich einfach entziehen, von der Ewigkeit zum Nichts, vom Monument der Christenheit zur klaffenden Leerstelle.

Monate später fürchteten Experten immer noch, dass sie einstürzen könne. Die Gefahr ist inzwischen gebannt, Notre-Dame gerettet. Wenn man vor dem Hauptportal steht, könnte man denken, es sei nichts passiert. Von hinten aber klafft eine Wunde. Auch in der Silhouette der Stadt fehlt schmerzlich der Spitzturm. Im Augenblick sieht es so aus, als hätten diejenigen gewonnen, die Notre-Dame nicht wieder so aufbauen wollen, wie die Kathedrale vor dem Brand war. Es soll schnell gehen. Sie ist eine Touristenattraktion. Bis zu den Olympischen Spielen soll sie wieder zu besuchen sein.