Das Melantrich-Haus, zentral am Prager Wenzelsplatz gelegen, beherbergte in den 1980er-Jahren mehrere Verlage. In einem davon erschien die Zeitung Svobodné slovo. Der andere widmete sich der Herausgabe von Büchern. Dessen Chefredakteur Jan Halada traf am Morgen des 21. November auf dem Weg in sein Büro den Kollegen Dusan Provazník aus dem anderen Verlag. Beide kannten sich gut. Provazník hatte vor der Revolution Publikationsverbot. Halada half ihm, brachte unter dem Tarn-Namen seiner Ehefrau Provazníks Übersetzungen aus dem Französischen und Polnischen heraus.

„Provazník“, so erinnert sich Halada, „hatte an dem Morgen ein Problem.“ Für den Abend war auf dem Wenzelsplatz eine neue Massendemonstration gegen das herrschende Regime erwartet worden. Man brauchte eine Möglichkeit, Vertreter der Opposition zu den Menschen reden zu lassen. Der Balkon im ersten Stock, der zu Svobodné slovo gehörte, befand sich in einem äußerst bedenklichen baulichen Zustand. Halada weiter: „Provazník sagte mir: ‚Wenn dort mehrere Leute stehen, droht der Balkon unter der Last abzustürzen. Können wir nicht auf euren Balkon nach oben kommen? Der ist doch in Ordnung. Und du hast den Schlüssel zum Balkon.‘“ Das habe er dem Freund nicht abschlagen können. Obwohl er ahnte, dass er dafür noch großen Ärger bekommen könnte, so Halada.

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Das Regime war zu diesem Zeitpunkt in der Tat noch mächtig. Zwei Tage später entsandte es aus dem ganzen Land noch Lkw und Busse mit bewaffneten Angehörigen der sogenannten Volksmilizen nach Prag, um dort „aufzuräumen“. Und aus Worten von Vertretern des harten Kerns der kommunistischen Staatspartei KSC wurde deutlich, dass auch der Einsatz von Armee-Einheiten gegen das Volk nicht auszuschließen war. Halada fuhr da doch auch im Nachhinein noch der Schreck in die Glieder: „Ich dachte echt, ich lande in Sibirien.“ Erst als der mächtige Prager KP-Chef Miroslav Stìpán von den Straßenbahn-Bauern der CKD-Werke ausgepfiffen wurde, ahnte Halada, dass es um die Kommunisten schlecht stehe. Kurz darauf schloss sich sein Verlag den Protesten der Opposition gegen das kommunistische Regime an.

Der Freundschaftsdienst hat Halada letztlich also keinen Ärger eingetragen, dafür den Namen „Schlüsselmann der Revolution“. Der „sichere“ Balkon nämlich, für den er den Schlüssel spendierte, wurde an besagtem Abend tatsächlich zum Auftrittsort für die Oppositionellen, mit dem vom Regime verfemten und über Jahre verfolgten Dichter Václav Havel an der Spitze. Er und andere sprachen von dem Balkon aus zu Hunderttausenden Tschechen, die sich auf dem Wenzelsplatz eingefunden hatten. Die ihrerseits Schlüsselbunde in der Hand hielten und mit ihnen den Kommunisten das letzte Stündchen läuteten. Die die Namen von Havel und der anderen skandierten, in Sprechchören ihre Bereitschaft bekundeten, die Alleinherrschaft der bislang Mächtigen brechen zu wollen.

Jeden Tag kamen die Menschen danach auf dem Wenzelsplatz zusammen. Und immer erfuhren sie aus dem Mund Havels und anderer den neuesten Stand der Dinge quasi aus erster Hand. Vor allem, wie die Verhandlungen mit den Kommunisten liefen, um die Macht abzugeben. Diese Informationen waren wichtig für die Menschen. Fernsehen und Radio, ewig von der Parteiführung geleitet, taten sich schwer, über die neue Entwicklung zu berichten. Über die gewaltigen Demonstrationen veröffentlichte das Fernsehen maximal ein paar Standbilder mit tendenziösen Kommentaren zugunsten des Regimes.

Als auf dem Melantrich-Balkon erstmals seit seiner Verbannung 1969 in die slowakische Provinz wieder Alexander Dubcek auftauchte, der Führer des unter sowjetischen Panzerketten zermalmten Prager Frühlings, hatten viele der unzähligen Menschen auf dem Wenzelsplatz Tränen in den Augen.

Das war nicht anders, als zwei Ikonen des Landes, der nach 1968 in der Tschechoslowakei gebliebene Schlagerstar Karel Gott und der aus dem deutschen Exil an die Moldau geeilte Protestsänger Karel Kryl, gemeinsam a cappella die tschechoslowakische Nationalhymne sangen. Dieser Gesang war das Symbol der Versöhnung zwischen Exulanten und im Land Gebliebenen.

Unvergessen auch der Auftritt der Sängerin Marta Kubisová. Sie war ein großer Star im Jahr 1968 gewesen, wurde danach gemaßregelt, gehörte zu den Erstunterzeichnern der Bürgerrechtsresolution der Charta 77, war Sprecherin der Charta und arbeitete im November 1989 noch als Schreibkraft in einer Prager Baufirma. Der Moderator des Abends bat sie um „ihr“ Lied – das „Gebet für Marta“, eine Art zweite Nationalhymne des Landes.

„20 Jahre lang hatte ich dieses Lied nicht gesungen, hatte es nicht singen dürfen. Mich überfiel ein schreckliches Lampenfieber. Aber der Text war fest in meinem Hinterkopf geblieben“, erinnert sich die Kubisová, die nach der Revolution eine neue glanzvolle Karriere startete. „Frieden sei mit diesem Land für alle Zeit!“, heißt es in der Hymne. Und weiter: „Mögen Zorn, Neid, Hass, Angst und Zwietracht nun vergehen und vergessen sein. Jetzt, da Du, mein Volk, die verlorene Selbstbestimmung zurückerlangst.“

Waren es am 17. November die Studenten gewesen, die mit ihrem Demonstrationszug in die Prager Innenstadt als Erste das Ende der Diktatur eingefordert hatten, verbreiterte sich das Heer der Oppositionellen zusehends. Erst schlossen sich ihnen Schauspieler in den Theatern an, dann mehr und mehr Arbeiter großer Betriebe. Die politische Leitung übernahm schließlich das „Bürgerforum“ um Havel. Es tagte im Schauspielerclub und dann in den Kellergewölben des Theaters Laterna magika.

In den völlig verqualmten kleinen Garderoben der Darsteller hockten die Führer der Revolution zusammen, verfassten Aufrufe, besprachen die Taktik bei den Verhandlungen mit der Regierung, informierten Journalisten, schmuggelten über sie Texte in den Westen, in die Redaktionen der Sender Freies Europa oder Stimme Amerikas, die ihrerseits eine große Hörerschaft in der Tschechoslowakei hatten.
Die Macht der bislang Mächtigen erodierte von Tag zu Tag mehr. Die Demonstrationen gegen sie nahmen zu. Auf dem Letná-Hügel hinter dem früheren riesigen Monument für Stalin trafen sich eine Million oder mehr. Niemand weiß das mehr so genau. Die Antwort auf die Frage, wer das Land künftig vertreten sollte, wurde immer deutlicher beantwortet: „Havel na hrad!“ (Havel auf die Burg!“ – den Sitz des Staatspräsidenten). So kam es dann auch.

30 Jahre danach werden sich wieder Hunderttausende auf dem Letná-Hügel versammeln. Menschen, die höchst unzufrieden mit den Leuten sind, die ihr Land heute führen – dem Russland und China zugeneigten Präsidenten Milos Zeman und dem Oligarchen Andrej Babi(s) an der Spitze der Regierung. Demonstranten, denen Havel fehlt. Der konnte zwar nicht verhindern, dass schnöder Nationalismus Tschechen und Slowaken teilte, die seit 1993 in zwei selbstständigen Ländern leben – aber immerhin sehr gut miteinander auskommen. Er sorgte aber vor allem dafür, dass Tschechien heute ein anerkanntes Mitglied in Nato und Europäischer Union ist.

Wer in diesen Tagen Leute treffen will, die sich der Samtrevolution erinnern wollen, der geht am besten ins Museum der Stadt Prag, wo eine große Ausstellung an die bewegten Tage und Wochen erinnert. Leute auch, die sprachlos sind, wenn man sie auf aktuelle Umfragen anspricht: Nur ein reichliches Drittel der Tschechen ist überzeugt davon, dass die Revolution richtig gewesen sei. Viele Menschen vermissen die Gleichheit aus sozialistischen Zeiten, ziehen sie der Freiheit von heute vor.

Zugegeben äußern sich so vor allem weniger Gebildete. Aber die Umfrage zeigt, wie sehr das Land heute gespalten ist. Nicht alle sind bereit, die Mühen der Ebene auf sich zu nehmen, die Václav Havel vorhergesagt hatte. In einer Rede in Salzburg 1990 hatte der Präsident hinzugefügt: „Ich habe immer geglaubt, dass das Gefühl der Lebensleere und des Verlustes des Lebenssinnes im Grunde nur der Aufruf ist zur Suche nach einem neuen Inhalt und Sinn der eigenen Existenz. Wer weiß, ob die Hoffnungslosigkeit nicht der eigentliche Nährboden wirklicher menschlicher Hoffnung ist.“