Disney assoziiert man in erster Linie wohl mit kinderfreundlichen Zeichentrick- und Animations-Blockbustern, aufgedrehten Teenie-Serien oder einem beliebten Streaming-Dienst. Doch spätestens seit Miley Cyrus, die 2006 aus der Disney-Serie „Hannah Montana“ entsprungen zum Popstar avancierte, dünkt einen, dass das Hause Disney auch bombensichere Brutstätte für globale Superstar-Karrieren ist.
Im Schnellverfahren zum Superstar
Diesem Nährboden ist auch Olivia Rodrigo entwachsen. Die 20-jährige Kalifornierin mit philippinischen Wurzeln kam mit ihrer Debütsingle „Drivers License“ 2021 augenblicklich auf die Überholspur im globalen Pop-Wettrennen und brach prompt sämtliche Spotify-Rekorde. Ihr darauffolgendes Debütalbum „SOUR“ verschaffte der damals erst 18-Jährigen gleich drei Grammys, darunter „Bestes Pop-Album“ und „Beste Newcomerin“.
Über Generationengrenzen hinweg
Das Branchenmagazin Variety bezeichnete Rodrigo als „Stimme ihrer Generation“, wohlmerklich der jüngsten Generation, die sich bereits erwachsen oder auf dem Weg dorthin wähnen darf, der sogenannten zwischen 1995 und 2010 geborenen „Generation Z“. Doch auch außerhalb dieser Alterskohorte findet Rodrigos Stimme Widerhall, wie knapp 58 Millionen monatliche Spotify-Hörer bestätigen.
Das könnte auch an Rodrigos reifem, raffinierten Pop-Entwurf liegen, der mit gekonnt gezimmerten Brücken in andere Genres wie Alternative Rock oder Folk die Essenz alter Zeiten und Respekt für das bereits Dagewesene durchscheinen lässt. Dieser im Mainstream verhaftete Pop, der erfrischenderweise auch Ausläufer und fremde Strömungen zulässt, fließt auch durch Rodrigos neues Album „GUTS“.
Dieses – frei übersetzt – mutige Aus-dem-Bauch-Heraushandeln hört man den zwölf neuen Songs, noch mehr als dem Erstlingswerk, an. In Power-Balladen wie „vampire“, der ersten Single-Auskopplung des Albums, holt Olivia Rodrigo mit ihrer sortenreinen Stimmqualität zwar zunächst zur großen Popgeste aus, bringt das wohldosierte Pathos dabei aber nie zum Triefen, sondern verleiht ihm bodenständigen Biss.
Von Musikgeschmack der Eltern inspiriert
Gleich im ersten Song „all-american bitch“ dringen zudem Rodrigos vielfältige stilistische Einflüsse durch: markiger High-School-Rock à la Avril Lavigne folgt auf ein zartes Folk-Gitarrenintro, das an die Country-Ursprünge Taylor Swifts erinnert. Zudem zählt die 2003 geborene Olivia Rodrigo Jack White von den Indie-Rock-Giganten The White Stripes, No Doubt und Alanis Morissette zu ihren größten musikalischen Ideengebern. Laut Eigenaussage hätten sich diese durch die Platten – oder wohl eher CD-Sammlung – ihrer Eltern in ihre musikalische DNA eingeschrieben.
All das sticht in der Klangwelt eines Pop-Superstars heraus und spiegelt sich auch in den unerwarteten musikalischen Überraschungsmomenten auf ihrem nuancenreichen neuen Album wider. Nicht-autochthone Pop-Elemente wie angedeutete Schreie, chorale Gesänge oder dunkel-verzerrte Gitarrensounds beweisen Mut zur Heterogenität. Dennoch zeigt ihre typisch geartete Popstimme, welchem Genre sich Rodrigo primär zuordnet. Diese ist heiser flüsternd, mit starkem Unterdruck, jederzeit bereit zur Gefühls- und Klangexplosion, lässt allerdings den hohen Wiedererkennungswert einer Billie Eilish, Ariana Grande oder Lorde vermissen.
Von den Zeitgenossinnen hat es ihr eine besonders angetan: Von Pop-Titanin Taylor Swift behauptet Rodrigo, der „größte Fan auf der ganzen Welt“ zu sein. Dem werden zwar Millionen andere „Swifties“, die sich als ebendies bezeichnen, widersprechen, dennoch ist Olivia Rodrigo glaubwürdig, hat sie doch in zwei Songs ihres Debütalbums Swift als Co-Songwriterin genannt, aufgrund der starken Anleihen, die sie an deren Hits genommen hat.
Songwriting im Fokus
Das Songwriting lagert Olivia Rodrigo ansonsten ungerne aus. Für die Veröffentlichung ihrer Alben erhielt das US-Label Geffen Records den Zuschlag, weil es laut Rodrigo ihr Songwriting statt ihrer Superstar-Qualitäten ins Zentrum rückte. Auch das macht Rodrigo zu einem untypischen Popstar, der auf Authentizität pochend starre Grenzen verwischt und gerade deshalb stellvertretend für eine neue Generation steht.