Ihre neue (Doppel-) CD ist eine Live-Kollektion handverlesener Songs aus Konzerten der Jahre 2012 – 16. Haben Sie die Auswahl alleine getroffen?

Melody Gardot: Ja, ich habe alle Songs selber ausgewählt, ich bin ja auch die Produzentin. Es waren über 300 Konzerte, die ich mir dafür durchgehört habe. Ich war danach jedenfalls sehr müde.

Nach welchen Kriterien erfolgte Ihre Auswahl?

Prinzipiell ging es mir bei der Auswahl um Gefühl, Nostalgie und Erinnerung. Ich habe die Auswahl über Stereos im Haus meines Technikers getroffen, der mir gleich sagen konnte, ob Multitracks dazu existieren oder nicht.  Am Anfang habe ich einfach in einer analytischen Art gehört, um Fehler zu finden. Nach Wochen, als die Ohren wieder gesäubert waren, habe ich versucht, mir das aus der Perspektive des Hörers zu erschließen.

Lassen sich die Veränderungen in Ihrer Musik auch mit Ihrer Genesung erklären?

Ja, und deshalb war diese langwierige Arbeit auch ein Lernprozess. Wir haben ja sehr satieesk, minimalistisch und ruhig angefangen, auch mit Empfindlichkeit und Feminismus. Ich habe dann begonnen, immer mehr zu riskieren. Man hört, wieviel Musik ich in all den Jahren ausgesetzt war. Und als mein Körper wieder stärker wurde, wurde auch meine Musik stärker. Das war für mich auch psychologisch sehr hilfreich.

Gibt es in Ihrer Auswahl auch eine Bühne, mit der Sie etwas Persönliches verbindet?

Das erste Mal in der Wiener Staatsoper (2013) war schon unglaublich für mich. Wenn ich heute davon erzähle, werde ich noch ganz emotional. Mein erstes Wien-Konzert war noch eine Outdoor-Performance (Arkadenhof Rathaus), ich war sehr jung. Danach wurde ich zu einem Konzert von Placido Domingo in die Staatsoper eingeladen. Und das nächste Mal durfte ich dann auf derselben Bühne stehen. Die Show war dann sehr bewegend, und ich habe danach in der Garderobe ein halbe Stunde lang geweint. Ich war so überwältigt, wie weggeblasen.

Mit welcher Musik wurden Sie eigentlich sozialisiert?

Ich hatte meine Miles-Periode, das war meine Blutwurzel. Sein Atmen im Instrument war für mich so wie mein Lebensatem. Wenn man in Philadelphia mit seinen vielen Clubs und Musikern groß geworden ist, hat man eine gewisse Beziehung zum Jazz. Wir haben eine spezielle Interpretation des Jazz, der Beat ist sehr hinterher, wir eilen nicht, wir stolzieren. Der früh verstorbene Blues-Gitarrist Jef Lee Johnson hat meine Ohren geöffnet. Diese lokale Typen haben mich sehr geprägt. Beeinflusst hat mich aber auch die Freundschaft mit Charlie Haden (gestorben 2014), der immer noch um mich herum ist. Charlie war mein größter Lehrer, er lehrte mich, gleichsam auf die Musik und die Stille zu hören.

Sie spielen Gitarre und Klavier, womit entstehen ihre Songs?

Es kommt darauf an, wo ich gerade bin, und auf die Stimmung, der kleine Schatten etwa, der einen Blues auf der Gitarre hervorbringt.
Aber das Klavier ist zuerst, das Klavier ist das, wo ich mich selbst finde. Ich habe mit dem Klavier begonnen, als ich ein Kind war. Mit der Gitarre begann ich, als ich von meinem Unfall zu genesen begann. Da konnte ich nicht am Klavier sitzen, die Gitarre spielte ich im Bett. Ich spielte sie zuerst wie Stanley Jordan mit seiner touch playing-Technik, weil ich ja liegend spielen musste.

Wann kommt nun wirklich eine neue CD?

Diese Frage hat jetzt aber sehr lange gedauert. Aber ich weiß es nicht. Wir gehen im Sommer wieder auf Tournee, ich schreibe wie verrückt und bin immer auf Achse. Ich muss eine Pause vom Tourneeleben machen, weil der physische Aspekt nach zehn Jahren bereits seinen Tribut forderte.

Wo und wie lebt Melody heute?

Mein Leben zu erklären, entspricht einem poetischen Disaster. Leben ist ein hartes Wort, weil ich immer auf Reisen bin. Aber ich habe eine Klausur hier in Paris, ein Bett und ein Klavier.

Wie sind Ihre Aussichten, sich jemals vollständig von ihrem Unfall zu erholen?

Meinen Sie, was mir die Leute erzählen oder was ich glaube? Ich glaube, alles ist möglich. In den letzten zehn Jahren habe ich einen enormen Fortschritt gemacht, der mich sicher macht. Ich war immer gezwungen, besser zu sein, als ich war. Ich hasste lange Zeit meinen Körper, weil ich ständig Schmerzen hatte. Nach dem Unfall musste ich mich komplett neu aufbauen. Ich musste wieder sehen lernen und mit Hörgeräten zu hören. Die Musiktherapie war dabei der Kern des Heilungsprozesses.
Am Anfang war ich immer traurig, ich musste oft den ganzen Tag bis 15 Minuten vor der Show im Bett bleiben. Niemand weiß das. Aber es wurde besser und besser. Nicht gebessert hat sich allerdings mein Nervensystem.