Frau Roupetz, es gibt so viel zu erzählen von einer Stadt, die einem ans Herz gewachsen ist: Welches Beirut wollen Sie dem TV-Publikum im "Weltjournal"-Städteporträt zeigen?
SOPHIE ROUPETZ: Das Beirut, das sich in einer unvorstellbaren Krise befindet, völlig erschöpft ist und dringend Hilfe von außen braucht. Das Beirut, das aber dennoch immer noch wunderschön ist und voller Potenzial steckt. In keinem anderen Land der Welt habe ich so schnell so tiefe und spannende Gespräche geführt wie im Libanon. Das Bildungssystem ist sehr gut, ein Großteil der Menschen spricht drei Sprachen fließend. Ich möchte auch diese schönen Seiten hervorheben, die Menschen in dem Land zeigen, und versuchen, die Komplexität des korrupten Systems beispielhaft aufzuzeigen – den Kontrast von Verwüstung und Eleganz, Stillstand und Leben.

Wie haben Sie die Stadt bei Ihren Recherchen für das Städteporträt erlebt? Was macht die aktuelle wirtschaftliche und politische Krisensituation mit den Bewohnern und Bewohnerinnen?
Die Stadt ist ausgelaugt. Ihre Einwohner traumatisiert und am Ende ihrer Kräfte. Das ist das erste Mal, dass ich Beirut so erlebt habe. Dieses Chaos ist für uns unvorstellbar. An jedem Tag, an dem ich aufgewacht bin, hat das libanesische Pfund im Vergleich zum US Dollar am Schwarzmarkt an Wert verloren. Geschäftsbetreiber können ihre Preise gar nicht so schnell anpassen. Das ist das Thema auf der Straße, genauso wie welche Tankstelle offen hat. Es gibt keinen öffentlichen Verkehr, das Auto vollzutanken gelingt nur mit guten Nerven und Glück. Psychische Erkrankungen waren bisher im Libanon ein Tabu-Thema, heute spricht fast jeder von depressiven Phasen. Bis zur Explosion hätte ein gut situierter Libanese niemals freiwillig sein Land verlassen, heute will der Großteil nur mehr weg.

Roupetz mit dem Besitzer des "Saint Georges", des einst prächtigsten Hotels an der Corniche, in dem ihr Großvater als Barbier gearbeitet hat.
Roupetz mit dem Besitzer des "Saint Georges", des einst prächtigsten Hotels an der Corniche, in dem ihr Großvater als Barbier gearbeitet hat. © (c) ORF

Ihr Großvater war vor dem Zweiten Weltkrieg Friseur im berühmten Saint-Georges-Hotel in Beirut gewesen. Wie sehr haben Sie seine Geschichten geprägt?
Ich habe ihn leider nicht mehr erlebt und würde heute alles dafür geben, mich mit ihm bei libanesischem Café darüber zu unterhalten. Bei uns zuhause in Gastein hängt ein selbstgemaltes Bild mit dem Tempel von Baalbek (römische Tempelanlage in der Bekaa Ebene, an der Grenze zu Syrien) von meinem Opa. An dem bedeutenden Ort, der bis heute eine atemberaubende Kulisse für Konzerte geblieben ist, bin auch ich fast jedes Mal im Libanon. Etwas von seinem arabischen Leben konnte sich mein Opa auch in Gastein beibehalten. Er ist Friseur geblieben, hatte eine zeitlang (1959-1968) seinen Friseursalon im Grand Hotel de l’Europe in Bad Gastein. Das Belle Epoque Hotel im Monaco der Alpen war bekannt für seine Gäste aus aller Welt, darunter auch aus Nahost. Mein Opa war ein Geschichtenerzähler, der seine Kundschaft auch auf Arabisch bespaßen konnte. 

Roupetz am Beiruter Yachthafen, Anfangspunkt der berühmten Prachtpromenade Corniche. Der Yachthafen war von der verheerenden Explosion vor einem Jahr nicht betroffen.
Roupetz am Beiruter Yachthafen, Anfangspunkt der berühmten Prachtpromenade Corniche. Der Yachthafen war von der verheerenden Explosion vor einem Jahr nicht betroffen. © (c) ORF

In einem Interview haben Sie erzählt, dass Sie lieber in Beirut als in London leben würden, wo Sie seit 2019 für den ORF tätig sind. Denkt man klassische Maßstäbe des Lebensstandards, dann überrascht diese Aussage. Wie reagieren Sie auf diese Überraschung?
Es haben mich schon einige Freunde im Libanon besucht. Ich sage ihnen immer, kommt gerne, aber auf eigene Verantwortung. Man muss wissen, welcher Typ man ist. Meine Mama und meine Schwester würde ich in Beirut beispielsweise nicht begrüßen wollen. Ich messe meinen Lebensstandard sehr an der Gesellschaft, in der ich mich befinde. In Mitteleuropa hat uns der Wohlstand isoliert und vom gemeinschaftlichen Leben entfernt. Ich liebe Menschen und Großzügigkeit. Der Alltag im Libanon ist hektisch und dramatisch, zwischenmenschlich erlebt man dafür absurd schöne Momente der Nächstenliebe. Zudem bietet mir das Land aufgrund all der Krisen auch als Psychologin oder Journalistin beruflich spannende Einsichten.