Hubert Patterer hat im E-Mail-Newsletter „Morgenpost“ der Kleinen Zeitung über mehrere Anrufe von Sebastian Kurz berichtet. Dem Bundeskanzler missfiel die Berichterstattung zu seinem Besuch im Kleinwalsertal. Das nehmen die Neos als Anlass für eine parlamentarische Anfrage zu allfälligen weiteren persönlichen Beschwerden von Kurz bei anderen Chefredakteuren. Die Nerven liegen blank nach zehn Wochen Coronakrise. Doch solche Anekdoten sind eine heimische Spezialität. Bei den Nachbarn steht der Journalismus in offensiver wissenschaftlicher Kritik. Sie ist hierzulande viel verhaltener oder kommt erst auf Nachfrage. Die Forscher sind in Österreich eher beim Team Medien.

„Systemjournalismus“ wirft Otfried Jarren, ein Dojen der Kommunikationswissenschaft und Präsident der Eidgenössischen Medienkommission, schon Ende März vor allem dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor: „Exekutive, Experten und Journalistenkollegen als Eigenexperten unter sich.“ Kollege Vinzenz Wyss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften legt dann nach: „Es wurde offensichtlich, dass es zu vielen Journalisten schlicht an statistischem Wissen fehlt.“ Parallel mit den Schweizern erhöht sich die Schlagzahl der deutschen Branchenschelte. Bis Werner D’Inka, dem einstigen Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“ der Kragen platzt: „Was Medienforscher dieser Tage von sich geben, spottet (…) jeder Beschreibung“, stellte er einem wütenden Kommentar voran, um dann mit jedem Kritiker einzeln abzurechnen. Dabei findet seine Selbstverteidigung des Journalismus auch akademische Unterstützung: „Es gab glänzende Erklärstücke, konstruktive Alltagshilfe, umfassende Berichterstattung über die geplanten Maßnahmen und medizinischen Notwendigkeiten“, sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen, „aber dann fehlte, vielleicht weil Journalisten selbst von der schieren Wucht der Ereignisse mitgerissen wurden, die politische Diskussion, das Drängen auf eine klar ausbuchstabierte Strategie.“

Der Zwiespalt spiegelt eine Kluft in der Gesellschaft wieder. Die Akzeptanz der Corona-Restriktionen der Regierungen sinkt zwar kontinuierlich, aber die Mehrheit der Bevölkerung stimmt ihnen noch zu. Dieses Miteinander aus Staatsräson reagiert empfindlich auf Medienkritik. Von „Lautsprecher“, „Verstärker“ bis „Turbo der Machthaber“ reichen hingegen die Verunglimpfungen des Journalismus durch Kritiker der Covid-19-Maßnahmen.

Larissa Krainer, die an der Universität Klagenfurt zu Medienethik forscht, setzt voraus: „Während einer Krise wie dieser gehört es zur Rolle der Medien, Informationen aus den Regierungskreisen zu verlautbaren, weil das Allgemeinwohl von diesen Informationen abhängig war.“ Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell von der Universität Wien bedauert allerdings: „Der Propaganda- und PR-Tross der Regierung hat die meisten Medien zunächst überrumpelt.“ Und die auf Digitalisierung spezialisierte Autorin Ingrid Brodnig betont: „Gerade wenn die Angst bei Bürgern groß ist, sind sie eher bereit, autoritäre Maßnahmen zu akzeptieren.“ Sie sagt: „Auch in unsicheren Zeiten sollen kritische Fragen gestellt werden wie: Ist es vernünftig und verhältnismäßig, welche Maßnahmen die Regierung setzt?“

Krainer sieht „in den letzten Wochen eine deutliche Entwicklung hin zu einem kritischeren Journalismus. Als Beispiel möchte ich den missglückten Ostererlass nennen.“ Der ebenfalls in Klagenfurt lehrende Medienökonom und Kommunikationswissenschaftler Matthias Karmasin analysiert: „Der österreichische Journalismus wankte in der Krise, aber er stürzte nicht. Dennoch wurden viele Probleme deutlich: Die Ausdünnung der Redaktionen gegenüber dem Anwachsen der Öffentlichkeitsarbeit in den letzten 15 Jahren, die Überalterung des Berufes – Durchschnittsalter aktuell 44,5 Jahre, die Frage der Innovation und der Refinanzierung und zukünftiger Geschäftsmodelle.

Deutlich wurde aber auch, wie notwendig professioneller und unabhängiger Journalismus ist.“ Pörksen sieht ihn trotzdem „noch nie so gefährdet wie heute. Das Interesse des Publikums explodiert, Einschaltquoten und Klickzahlen gehen durch die Decke, aber es fehlt das robuste Geschäftsmodell, um die Verluste aufzufangen, die sich durch die Neuordnung der Anzeigenmärkte ergeben.“ Hausjell übt massive Kritik, die Regierung habe die krisenbedingt „extremen Einbrüche der Werbeeinnahmen trotz erhöhten Auflagen sogleich schamlos ausgenutzt und die Bedingungen, unter denen in der Corona-Krise Journalismus fortan passiert, einseitig diktiert. Medien befinden sich seither in einer Art Geiselhaft. Kritisches Nachfragen ist auf Standby gesetzt.“

Peter Filzmaier von den Universitäten Graz und Krems ist gnädiger: „Man muss Politikern und Journalisten in der Corona-Krise eine Gemeinsamkeit zugestehen: dass sie unter enormem Entscheidungs-, Verantwortungs- und Zeitdruck handeln mussten. Das gemeinsame Problem ist, dass dieser Druck entweder als Pauschalentschuldigung und Generalverurteilung des Handelns gilt. Wir würden also viel mehr differenzierte Analysen sowohl von richtig gemachten Dingen als auch Fehlern brauchen.“

In diesem Sinne schreibt Hubert Patterer in einer weiteren „Morgenpost“, ob die Anrufe von Sebastian Kurz den Tatbestand der Intervention erfüllten, darüber ließe sich streiten. Es entstehe aber der Eindruck eines unsouveränen Umgangs mit Kritik. Umgekehrt seien auch Journalisten als Angegriffene mitunter von „ausgesuchter Empfindsamkeit.“ Was die Wissenschaft von Politik und Medien gleichermaßen fordert, fehlt in beiden Bereichen in der Krise mehr denn je: Zeit zur Selbstreflexion.