Menschen, die mit der Erdanziehungskraft ihren Frieden gemacht haben, mögen die Euphorie wohl nicht nachvollziehen können. Aber ja, es ist eine verdammt gute Nachricht, dass Captain Jean-Luc Picard (Patrick Stewart) seinen Ruhestand beendet. Und überhaupt war es ohnehin mehr ein Unruhestand, wie sich gleich in den ersten Minuten der Auftaktfolge von "Star Trek: Picard" (ab 24. Jänner auf Amazon Prime) zeigt: Der hochdekorierte Captain der Sternenflotte versucht sich zu erden - stilecht auf einem Chateau in Frankreich. An seiner Seite nach wie vor eine Nummer eins, nur hat er vier Beine. Jean-Luc Picard, eine Figur, die alles in sich vereint, was sich der Erfinder der Serie Gene Roddenberry erdachte, nachdem er die Gräuel des Zweiten Weltkriegs an der Front miterlebt hatte. Sein Gegenentwurf: eine Welt, die ihre Vielfalt zelebriert und den Frieden als Gewinn und nicht als Zufallsprodukt erachtet. Zwischen der ersten Folge im Jahr 1966 und heute mögen 54 Jahre vergangen sein, aber es zeigt sich: Die Serie war damals eine Utopie und ist es heute noch.

Nicht nur deshalb ist Jean-Luc Picard – von 1987 bis 1994 war er Captain auf dem Raumschiff Enterprise – eine Kultfigur. Im Star-Trek-Universum selbstredend, ist er längst Fixgast in Managermagazinen und in Vorträgen zur Mitarbeiterführung. Wer in unserer Welt seine tägliche Dosis Picard-Weisheit braucht, bezieht sie über den Twitteraccount @PicardTips. Sein Führungsstil gilt als vorbildlich, er versteht sich als Teamplayer, der treffsicher das Potenzial seiner Mitarbeiter erkennt. Das sollte man wissen, bevor man sich als Laie in dieses Universum begibt.

Wir schreiben das Jahr 2399: Man könnte meinen, Admiral Jean-Luc Picard macht es sich auf seinem französischen Chateau gemütlich und schaut seit 15 Jahren den Trauben beim Reifen zu. Doch der bedächtige Blick über die Weinberge ist mehr ein nervöses Suchen, eine Mischung aus wiederkehrenden Albträumen und Melancholie treibt ihn um (und vielleicht auch an). Einer, der in diesen Träumen immer wieder auftaucht, ist der Androide Data. Ehemals fixer Teil der Enterprise-Crew und für Picard immer Freund, nie Maschine. Das mag auch der Grund sein, warum sich Data Jahre zuvor (Star Trek: Nemesis) für Picard & Co. geopfert hat.

Sie braucht seine Hilfe: Jean-Luc Picard und Dahj
Sie braucht seine Hilfe: Jean-Luc Picard und Dahj © CBS/Amazon Prime

Picard ist also unstet, die Vergangenheit kratzt an seinem Nervenkostüm. Das verstärkt sich, als sich ein TV-Team ankündigt. Doch was sich als Heldenhuldigung ankündigte, wird ein Tribunal, als die Rede auf Picards Rolle während der Romulus Supernova kommt, bei der es zahlreiche Tote gab. Der ansonsten kühle Kopf verliert endgültig die Nerven. Ist der hochdekorierte Admiral nur ein Verklärer, der alten Zeiten huldigt und einem veralteten Wertekanon nachhängt? Bis dahin ist das der rote Faden der ersten Folge: ein Mann im Unruhestand. Wer sich längst an das enorme Tempo vieler Serien gewöhnt hat, wird bis dahin vielleicht schon unruhig geworden sein. Sehr bedächtig lässt sich diese Serie an.

Als eine mysteriöse junge Dame namens Dahj auftaucht, die davon berichtet, dass ihr Freund ermordet wurde und sie selbst fast Opfer einer Entführung geworden wäre, blüht der Admiral AD auf. Der Pawlowsche Hund in ihm hat Blut geleckt. Noch mehr, als sich herausstellt, dass sie auffällig einer Frau auf einem Bild ähnelt, das Data einst für Picard gemalt hat. Der Titel des Bildes "Daughter", also Tochter. Ist es möglich, dass Data eine Tochter hat? Die Antwort darauf könnte der Kybernetiker Bruce Maddox liefern. Was glauben Sie, wird Jean-Luc Picard wohl als Nächstes machen? Seine Weintrauben ernten oder sich eine Crew samt Raumschiff besorgen?

Jean-Luc Picard hat genug vom Ruhestand
Jean-Luc Picard hat genug vom Ruhestand © CBS/Amazon Prime

Ziemlich sicher trübt die Wiedersehensfreude jegliche Objektivität, doch über eines kann sich nicht hinwegtäuschen: Wer sich Tech-Gadgets erwartet, die in die Zukunft weisen, dürfte in der ersten Folge ziemlich enttäuscht werden. Dass Bildschirme durch Hologramme ersetzt werden, schaut eher nach 2025 aus, denn nach 2399. Wer ein Fan der ersten Stunde ist, der wird sich vielleicht gut aufgehoben fühlen: Warp-Entschleunigung. Doch gemach, gemach, noch sind wir auf der Erde und da wirkt sie immer, diese lähmende Erdanziehungskraft. Also geben wir uns vorerst der Wiedersehensfreude hin, bevor er unweigerlich kommt: der genaue Blick auf die Verwandten, wenn der Kuchen erst einmal aufgegessen ist. Danach muss die Geschichte aber zünden! (Bitte nicht weiter erzählen: Ein erster Blick auf Folge 2 und 3 zeigt: Das tut sie auch).

Was gefällt? Ach, wir haben es immer schon gewusst, auch Jean-Luc Picard ist nicht ohne Fehl und Tadel. Hilf den Unschuldigen und lass dich nicht durch Schwätzer blenden, ist ebenso ein gutes Lebensmotto. Seinem Allheilmittel bleibt Picard auch in der neuen Serie treu: "Earl Grey never fails".