Für die Eltern des Philosophen Richard David Precht war der Großteil des deutschen Kinderfunks nichts als "amerikanische Scheiße". Dahinter habe die Vorstellung gesteckt: "Das ist Verblödungsfernsehen. Auf der einen Seite werden Tränen wegen Lassie vergossen und auf der anderen Seite werden Kinder in Vietnam bombardiert und verbrannt", schildert Precht seine Kindheitserinnerungen.

Er gehört mit seinen zu den vielen Zeitzeugen, die Regisseur Jean-Gabriel Périot für die zweiteilige TV-Doku "1968 - Die globale Revolte" vor die Kamera geholt hat (Dienstag, ab 20.15 Uhr und in der TV-Thek). Aktivisten, politische Gefangene und Forscher rund um den Erdball erläutern am Dienstag ab 20.15 Uhr auf Arte, dass die Studentenunruhen 1968 weltweit Wurzeln hatten.

Beispiel USA: Von Mississippi, der Gegend mit dem ausgeprägtesten Rassismus in den USA, geht eine friedliche Protestbewegung aus. Sie ist mehr als ein Eintreten für die Rechte der Schwarzen. Bald schon geht es um die Frage, ob junge Menschen ihre politischen Debatten in die Hörsäle tragen dürfen. Historiker Sam Tanenhaus erläutert: "Die Ereignisse der 60er Jahre ermöglichten den Konservativen zu sagen: 'Es sind die Linken, die Eure Institutionen angreifen. Sie verbünden sich mit den Schwarzen auf der Straße. Sie werfen Bomben. Sie sind die wahren Radikalen.'" Der Staat schlägt zurück. Allein bei den Krawallen in Watts gibt es 1965 in sechs Tagen der Gewalt 34 Tote, die meisten von ihnen sterben durch Kugeln der Sicherheitskräfte.

Beispiel Großbritannien: Die Jugend steht der Politik zunächst fern, dafür toben im Seebad Brighton Straßenschlachten von Mods und Rockern, es geht um Musik und Kleidung. Schriftsteller Barry Miles blickt zurück: "In London, im Grunde in ganz England herrschte in den 60er Jahren weitgehend noch das alte Establishment der Vorkriegszeit. Und nach dem Krieg wollten die Politiker und Mächtigen einfach die alten Wege weitergehen. Was England grundlegend veränderte, war der Umstand, dass meine Generation besser gebildet war als unsere Eltern. Und so sahen wir sie nicht mehr länger als Mentoren." Die neuen Vorbilder: Beat-Dichter, deutsche Philosophen, französische Filmemacher. "Eine ganze Generation war auf der Suche nach einem besseren Leben und sah sich in einem Supermarkt der Ideen."

Auch der Historiker Wolfgang Kraushaar erinnert sich an die Sehnsucht nach neuen Antworten. "Es hat ein großes Gären, einen großen Unmut gegeben", sagt er über das West-Berlin der 60er Jahre. Die Unis seien bis in die Spitze hinein autoritär gewesen. Doch auch bei der Polizei herrscht 1967 der Geist der Vorkriegszeit. Beim Schahbesuch dulden die Einsatzkräfte das brutale Vorgehen persischer Sicherheitsbeamter gegen Demonstranten: "Der Polizeiapparat im damaligen West-Berlin war wirklich durchsetzt mit ehemaligen Wehrmachts- und SS-Angehörigen. Da bekam man seine Zweifel, wenn man hinter die Kulissen zu schauen begann", sagt Kraushaar. Das Trauma: der Tod von Benno Ohnesorg in der Anti-Schah-Demo. Eine wichtige Etappe des Wegs in die RAF-Gewalt.

Benno Ohnesorg beim Abtransport, nachdem er angeschossen wurde
Benno Ohnesorg beim Abtransport, nachdem er angeschossen wurde © (c) AP (HERR)

Der Zweiteiler besticht durch die Vielzahl der Interviewpartner und die Fülle des Archivmaterials. Périots größtes Verdienst ist aber, dass er weltweit Stränge zusammenführt. Brasilien, Mexiko, Italien, Frankreich - überall brodelt es in diesen Jahren. Nicht nur in Deutschland, auch etwa in Japan steht am Anfang der Revolte der Tod eines Studenten. Was aber noch mehr verbindet, ist der Protest gegen das Massensterben im Vietnam-Krieg, Abend für Abend im TV zu sehen. "Vietnam war das Epizentrum", sagt Erri de Luca, Autor und Mitglied der außerparlamentarischen Opposition Lotta Continua. "Es heißt, die Studenten hätten für uns in Italien die Lunte gezündet. Aber es war eine Lunte, die es schon gab, die nur noch angesteckt werden musste."