Armin Thurnher: Auf diese überraschende Frage habe ich eine überraschende Antwort: einen öffentlich-rechtlichen. Das heißt, einen ORF, der Regierung und Bevölkerung verantwortlich ist, aber von den politischen Parteien weder usurpiert, terrorisiert noch in die Kommerzfalle getrieben wird. Einen ORF, der journalistischen Qualitätsansprüchen genügt und damit den verkommenen Markt der österreichischen Privatmedien korrigiert. Das heißt, das Land braucht einen ORF, der so gut ist, wie er sein könnte und sein müsste. Also besser als jetzt.

Michael Fleischhacker: Ich nehme an, lieber Thurnher, dass die Überraschung, die Sie angesichts der Frage befällt, mit der Tatsache zu tun hat, dass es sich um eine Suggestivfrage zu Ihren Gunsten handelt. Denn die Frage „Welchen ORF braucht das Land?“ setzt voraus, dass die eigentliche Frage - „Braucht das Land den ORF?“ - bereits mit Ja beantwortet ist. Nicht, dass ich grundsätzlich gegen Suggestivfragen wäre, aber in diesem Fall würde ich lieber zunächst die wirkliche Frage erörtern, nämlich die, ob das Land den ORF braucht. Ich beginne mit einem Antwortvorschlag: Nein.

Thurher:  Na, das wird ja ein Feuerwerk der Sürprisen! Ich nehme an, Sie plädieren dafür, einfach alles dem Markt zu überlassen. Aber sehen Sie, lieber Fleischhacker, im Fall eines demokratischen Staates ist das keine so gute Idee. Und in Österreich schon gar nicht. Selbst im schönen Großbritannien kam man vor knapp hundert Jahren auf die Idee, dem Spiel der Marktkräfte eine Korrektur entgegenzusetzen, die nicht im Interesse von Medieneigentümern agiert, sondern in dem der Gesellschaft. Sie nennen es BBC. Überraschen Sie mich und sagen Sie jetzt bitte nicht, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gibt!

Fleischhacker: Es wird Sie wenig überraschen, dass ich tatsächlich der Meinung bin, dass der Markt mehr kann, als Sie ihm zutrauen. Aber wir könnten uns darauf einigen, dass es Inhalte gibt, an deren Herstellung das, was wir meinetwegen unscharf „die Gesellschaft“ nennen wollen, Interesse hat, das aber unter Marktbedingungen nicht hergestellt würde, weil dieses Angebot aus Mangel an Nachfrage nicht finanzierbar wäre. Zwar könnte man dann fragen, ob es wirklich ein Bedarf der „Gesellschaft“ ist, der da angemeldet wird, aber bleiben wir einfach einmal dabei. Was hindert die Gesellschaft daran, Mittel für die Herstellung solcher Inhalte bereitzustellen, ohne einen riesigen Apparat mitzufinanzieren, der mehrheitlich Inhalte produziert, die der Markt ohnehin zur Verfügung stellt? Wenn, dann sollte man öffentlich-rechtliche Inhalte finanzieren, aber nicht ein viel zu großes Unternehmen, das sich als Ganzes öffentlich-rechtlich heißt, obwohl es nur zum Teil öffentlich-rechtliche Inhalte produziert.

Thurnher: Das habe ich auch einmal geglaubt. Heute denke ich, dass es des Apparats bedarf. Er sorgt für eine gewisse Verlässlichkeit der journalistischen Verfahren. Er sorgt für ein Gewicht und er hat auf dem Markt Macht, das sollte heißen: Gegenmacht. Das hindert den Staat nicht, öffentlich-rechtliche Inhalte zu fördern, wo immer er sie findet. Das bedarf aber dann einer Instanz, die nachvollziehbar beurteilt, was das ist, öffentlich-rechtlich. In einem großen Apparat, der einem eigenen Gesetz unterliegt, geschieht das sozusagen systematisch. Um gegen die gesammelte Marktmacht von Boulevard bis Social-Media-Konzernen zu bestehen, braucht es eine gewisse kritische Masse, sprich ein Unternehmen, in unserem Fall den ORF.

Fleischhacker: Habe ich Sie richtig verstanden? Sie denken, dass der Apparat per se dafür sorgt, dass der Inhalt, den er produziert, öffentlich-rechtlich ist? Echt jetzt? Thurnher, schauen Sie eigentlich manchmal fern? Besonders bezaubernd finde ich allerdings Ihre Idee, dass der Staat neben dem ORF, den er erhält, wie er ist, außerdem noch die öffentlich-rechtlichen Inhalte der privaten Anstalten fördert. Warum verstaatlichen wir dann eigentlich nicht gleich alle Medien? Wenn es wahr ist, dass eine Institution qua staatlicher Vollalimentation das Gute tut, wäre das doch die einzig vernünftige Maßnahme.

Thurnher: Nein, Sie haben nicht verstanden. Institutionalisierung in einem Apparat verleiht dem öffentlich-rechtlichen Gedanken eine gewisse Kraft. Journalismus in der „New York Times“ hat auch etwas mehr Gewicht als eine Tagebucheintragung von Ihnen oder mir. Und das Zweite haben Sie ja selbst gesagt, ein bisschen weiter oben: „Wenn, dann sollte man öffentlich-rechtliche Inhalte finanzieren“ - „man“, das kann nur der Staat sein. Das mit der Verstaatlichung rubriziere ich unter Dutzendfoul. Reden wir doch lieber darüber, warum die Regierung den ORF kaputtmachen will und wessen Interessen das dienen könnte. Haben Sie eine Idee?

Fleischhacker: Ich glaube nicht, dass die Regierung den ORF kaputtmachen will. Um ehrlich zu sein, halte ich genau das für das Problem. Sie wird sich, wie alle Regierungen davor, damit begnügen, so gut wie möglich sicherzustellen, dass der ORF für sie funktioniert. Gerd Bacher hatte recht, als er sagte: Den Parteien geht es nicht darum, wie es dem ORF geht, sondern wie es ihnen im ORF geht. Auch der jüngste Angriff von Heinz-Christian Strache auf den ORF und seinen Generaldirektor der Herzen ist nicht der Auftakt zu einer ORF-Demontage, sondern ein weiterer Schritt hin zu seiner Zementierung. Das wissen alle Beteiligten ganz genau, darum ist ja auch die ganze Aufregung rundherum so heuchlerisch.

Thurnher: Also, darauf können wir uns einigen: Wenn wir einen ORF brauchen - ich meine, wir brauchen ihn -, dann sollte er nicht von den politischen Parteien in den Dienst genommen, dafür aber einem unerbittlichen Qualitätsanspruch unterworfen werden. Dass die FPÖ plumper denn je sich altparteilicher aufführt als jede Altpartei, ist das eine. Dass die ÖVP am liebsten einen privatisierten ORF zum Vorteil der privaten Konkurrenz hätte, das andere. Der ORF wird sich also wieder einmal selber retten müssen. Wir beide haben ja schon einmal versucht, ihm dabei zu helfen.

Fleischhacker: Ja, das haben wir schon einmal versucht. Ich dachte nämlich damals noch, dass es den ORF braucht, um ausreichend öffentlich-rechtliche Inhalte zu produzieren. Das glaube ich nicht mehr. Es braucht den ORF nicht, im Gegenteil: Dass er noch in dieser Form existiert, ist das Hauptproblem des politmedialen Komplexes.

Thurnher: Ein schönes Wort. Ich glaube, der ORF (die Idee des ORF) kann uns vor dem Hauptproblem dieses Komplexes retten: dass nämlich alle Kommunikation nicht mehr einer demokratischen, sondern nur mehr der Kommerzlogik folgt. Wir brauchen den ORF, weil Demokratie eine faire Bühne braucht.

Fleischhacker: Die demokratische Logik der Kommunikation hat einen Namen, lieber Thurnher: Markt. Und ich glaube, wir sollten nicht der Ansicht sein, dass die österreichische Demokratie ohne den ORF nicht auskommt. Ein vernichtenderes Zeugnis könnte man dieser Demokratie nämlich nicht ausstellen.