Heute startet das Toronto International Film Festival - ohne Ulrich Seidl und die Weltpremiere seines neuen Films „Sparta“. Man werde diesen Film über die pädophile Neigung eines Mannes „nicht länger zeigen“, teilte das Festival mit. „Alle öffentlichen und professionellen Screenings wurden gestrichen.“ Seidl wäre persönlich angereist.

Damit reagiert das Festival in letzter Minute auf die Vorwürfe, die Betroffene vor einer Woche im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ nach monatelangen Recherchen erhoben. Die Absage ist zu begrüßen.

Denn so lange die darin erhobenen Vorwürfe von Missbrauch der Kinderrechte, Täuschung der Eltern, Ausbeutung von minderjährigen Laien in einem der ärmsten Teile Rumäniens und Europas und fehlende psychologische Betreuung am Set nicht geklärt sind, wäre es makaber, einen Film und seine Protagonisten und Protagonistinnen zu beklatschen. Wider den Willen der minderjährigen Buben und ihrer Eltern, das wäre wie eine doppelte Überschreitung der Schamgrenze. Und es wäre befremdlich, das Werk gesondert von dem Dreh, dem Akt der Herstellung und Produktion von Bildern, zu beurteilen. Das lässt sich in diesem Fall und diesem Thema nicht auseinanderdividieren.

Seidl hat, wie berichtet, alle Vorwürfe in einem Statement zurückgewiesen. „In allen meinen Filmen, in meinem gesamten künstlerischen Werk verlange ich nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten: Ich stelle sie nicht an den (moralischen) Pranger, sondern fordere dazu auf, sie als komplexe und auch widersprüchliche Menschen wahrzunehmen“, erklärte der Filmemacher und Produzent darin.

„Die daraus sich ergebenden Ambivalenzen zwischen Fürsorge und Missbrauch zu erkennen und zu beschreiben, hinzuschauen, anstatt wegzusehen und sie damit auszublenden – darin sehe ich eine wesentliche Verantwortung – als Künstler und als Mensch.“ Und dieser Verantwortung muss sich einer der erfolgreichsten und umstrittensten Austro-Regisseure nun auch stellen. Auch, weil seine Methode Emotionen und Authentizität unter extremen Drehbedingungen zu produzieren, auf dem Prüfstand steht. Kein Spielfilm braucht echtes Leid, um fiktiv von Leid zu erzählen.

In Rumänien haben Staatsanwaltschaft und Polizei die Ermittlungen wieder aufgenommen. Laut „Spiegel“ gelten in Rumänien ähnliche Kinderrechte wie hierzulande. Das Kinder- und Jugendlichen-Beschäftigungsgesetz sieht psychologische Betreuung, maximal vier Stunden durchgehende Arbeit sowie ein ärztliches Attest vor, das den Kindern bescheinigt, geistig und körperlich fit zu sein. Ähnliche Regeln gelten laut „Spiegel“ auch in Rumänien. Für die Beurteilung sind Behörden und Gerichte zuständig.

Die Causa Seidl birgt mit allen an die Oberfläche gespülten Erkenntnissen aber auch eine Chance für die Branche und die heimische Filmförderung: genauer hinzuschauen auf Arbeitsbedingungen an Sets und Theaterbühnen sowie prekäre Verhältnisse in der Film- und Kulturbranche kritisch zu hinterfragen. Diese vielfach gschlamperten Verhältnisse fördern Abhängigkeiten. Und diese wiederum öffnen Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch Tür und Tor. Die Absage bietet also auch die Chance zur Aufklärung. Ob sich nun San Sebastian ein Beispiel an Toronto nimmt und den Film nächste Woche aus seinem Wettbewerb streicht, wird sich in Kürze zeigen.