Es war schon auf dem Papier eine besonderer Abend. Zum ersten Mal sollte mit Oksana Lyniv eine Frau am Grünen Hügel dirigieren. Zum letzten Mal wollte Angela Merkel als Bundeskanzlerin der Premiere beiwohnen. Behindert durch strikte Covid-Sicherheitsmaßnahmen hatte sie sich ein letztes Mal durch ein ausgedünntes Spalier zum Eingang des Hauses bewegt und die stumme Huldigung des im Schachbrettmuster platzierten Publikums erduldet.

Der Abend hebt dröge an. Seeleute hängen trunken an einer Hafenspelunke, Peitschenlampen spenden fahles Licht (Gleb Filshtinsky), ein Fremder - John Lundgren als Holländer - singt dröhnend seinen finsteren Monolog. Georg Zeppenfeld als Daland versucht gegenzuhalten. Viel Differenzierung kann er auch nicht in diese Eröffnungsszene bringen. Doch dann kommt sie.

Asmik Grigorian sitzt unter den Choristinnen, die hier nicht spinnen, sondern ein Lied proben. Sie pubertiert. Eine bunte Strähne hat sie sich ins Haar gefärbt, ihre schlanken Gliedmaßen schleudert sie trotzig um sich, gerne knallt sie Türen. Wahrscheinlich ritzt sie sich auch heimlich und trägt Tattoos an verborgenen Stellen. Ihr Lied vom erlösungsbedürftigen Fliegenden Holländer, die gefürchtete Ballade der Senta, knallt sie den biederen Kolleginnen voller Wut und Verachtung hin, dass denen und uns Angst und Bange wird – der Höhepunkt des Abends.

Dann trifft sie den Besungenen. Der Holländer steht in der Tür zum Esszimmer der Eltern, sie erstarrt. Der Vater, das weiß sie noch nicht, hat sie dem reichen Fremden verschachert, sollte sie ihm gefallen. Die beiden Einsamen ergänzen einander in ihren krankhaften Sehnsüchten. Er sucht eine Frau, die ihre Treue im Tod bewährt, sie will ihn retten, koste es ihr Leben. Ein Klassiker.

Hier kommt Dmitri Tcheniakov ins Spiel. Der Moskauer Regisseur und Bühnenbildner, dessen betörenden „Eugen Onegin“ die Wiener Staatsoper zeigt, hat eine etwas andere Idee vom Hintergrund der Personen als Wagner. Im Vorspiel zeigt er den jungen Holländer, der seine Mutter mit dem Vater des Nachbarkindes Daland erwischt. Die Frau wird isoliert im Dorf und erhängt sich vor dem Kind, ein Trauma mit Spätfolgen.

Nun sitzt also der gealterte Holländer mit Daland, dessen Frau und Tochter in der engen Veranda und speist. Der Vater sagt Nebensächliches und merkt gar nicht, wie die Beiden einander verfallen. In bedrückender Intensität besingen sie ihre Bilder vom je anderen, ohne die konkrete Person im Raum wirklich wahrzunehmen, ein beklemmend präzises Bild.

Und noch einmal durchkreuzt Tcherniakov Wagners Pläne. Als die Mannen Dalands die Zombie-Mannschaft des Holländers wecken möchten, kommt es zum Showdown: Der Holländer, eine Art Frontex-Offizier, erschießt ein paar der Boat-People, als die Dalands Leute erscheinen. Mary, die Chorleiterin aus dem zweiten Aufzug, wird ihn später mit der Flinte zur Strecke bringen.

Das alles aber verblasst zum Rahmen, in dem Asmik Grigorian ihr wunderbares Wesen treibt. Die Intensität ihrer Darstellungskunst, ihre Stimmbeherrschung, Kraft und Energie hat derzeit nicht ihresgleichen auf der Opernbühne. Wie Eisenfeilspäne ordnet sich alles Übrige um diese künstlerische Urgewalt. Selten ist eine Künstlerin für ihre Leistung so bejubelt worden wie die Grigorian nach diesem Kraftakt.

Die zweite Überraschung ist Eric Cutler, dem die undankbare Rolle des Jugendfreundes und verschmähten Verehrers Erik zufällt. Cutler formt aus der Rolle die Gestalt eines intensiv und ernsthaft liebenden Mannes, der um Senta bis zuletzt kämpft. Auf einmal stehen zwei stimmlich wie darstellerisch ebenbürtige Menschen auf der Bühne, die an einer entscheidenden Schwelle zum Erwachsenwerdens stehen. Nicht auszuschließen, dass sie nach dem gewaltsamen Ende von Sentas  pubertärem Albtraum zusammenfinden, scheint der Regisseur anzudeuten.

Nur John Lundgren will nicht so recht in dieses psychologische Kammerspiel passen. Er singt den Holländer im alten Stil, mit viel Druck und hohlem Pathos.  Selbst Georg Zeppenfeld, einer der feinsinnigsten Wagnersänger, kann mit ihm als Gegenspieler seine Qualitäten nicht ausspielen.

Und die Debütantin? Oksana Lyniv trägt und ermöglicht diesen triumphalen Abend. Sie lässt der alles dominierenden Protagonistin Raum zur Entfaltung, hält die Spannung und peitscht die Klangwogen immer wieder gewaltig auf. Großartig, wie zart und differenziert sie den Chor sein „Steuermann, lass die Wacht“ singen lässt. Auch sie wird verdient gefeiert. Nur der Regisseur spaltet das Publikum, das offenbar die Eingriffe in Wagners Libretto nur zum Teil schätzte. Den Triumph schmälerte das nicht.