Herr Strasser, Sie feiern in diesen Tagen Ihren 70. Geburtstag. Mit Schutzmaske. Lässt das Virus einem überhaupt Zeit und Muße zur persönlichen Rückschau, zur Bilanz?
PETER STRASSER: Also ich werde meinen Geburtstag mit meiner Familie feiern, da darf ich hoffentlich die Maske abnehmen, oder? Auch umarmen und schmusen soll wieder erlaubt sein, soviel ich weiß – und ich weiß ja immer zu wenig, weil jeden Tag neue Lockerungs- und Wiederabdichtungsmaßnahmen beschlossen werden. Grenzen auf, Grenzen zu, also was? Aber, wenn wir schon davon reden, das ist auch eine Metapher fürs Leben überhaupt.

Inwiefern?
Grenzen auf, Grenzen zu! Türen auf, Türen zu! Ich hatte Glück, für mich gingen unverhofft mehr Türen auf als zu, bilde ich mir ein. Ich hätte auch Pech haben und als Kind an Lungentuberkulose sterben können. Rückschau, Bilanz? Weiß nicht.

Was lässt Sie zögern?
Leute, die sich ihr Glück als eigene Leistung zuschreiben, gehen einem mit ihrer Erfolgsgeschwätzigkeit auf die Nerven. Die Erinnerungen werden im Alter stärker, das schon, und dabei auch dieses eigenartige Gefühl, dass irgendwie wohl alles seine Richtigkeit hatte.

Wie wird man denn eigentlich Philosoph?
Wittgenstein hat einmal gemeint, die richtige Lebenseinstellung bestehe in dem Gefühl, was immer passiere, es könne einem nichts passieren. Prosaisch gesagt: Man fühlt sich im Leben wie ein Fisch im Wasser – eben im richtigen Element. Ich habe dieses Gefühl nicht, versuche es aber zu rechtfertigen, indem ich meine „Fisch im Wasser“-Erinnerungen schreibend zu nützen suche. Das wurde mit den Jahren zusehends mein Weg zur Philosophie.

An welche Wegstationen erinnern Sie sich besonders?
Besonders? Ich könnte Ihnen jetzt mit den Ereignissen meines Lebens kommen, die man in Nachrufen die „wichtigsten“ nennt, die großen Weichenstellungen der eigenen Existenz. An meine Geburt im Jahr 1950 erinnere ich mich naturgemäß nicht, an meine Matura, meine Hochzeit, die Geburt meiner Kinder und Enkelkinder, mein erstes Buch. Das sind so Glanzmomente, wie man sagt. Aber je älter ich werde, umso mehr drängen sich mir die kleineren, intimen Momente auf.

Welche denn?
Ich denke an den Glanz der Kirschen, die mir zu Hause als Willkommensgruß offeriert wurden, als ich aus der Lungenheilanstalt entlassen war. Oder an jenes Gänseblümchen am Rande der heißen Mauer des Arsenals in Venedig, wo ich die Werke der aktuellen Künstler unserer Zeit betrachtet hatte. Und hier, plötzlich, das blitzende Gänseblümchen aus einer staubtrockenen Grasnarbe, das mich verzauberte und geradezu an die Welt als Schöpfung glauben machte.

Haben Sie schon immer das Kleine im Großen gesucht?
Damals empfand ich das alles viel weniger intensiv, mir stand ja der Sommerschweiß auf der Stirn. Aber jetzt, Jahre danach, bewegt mich die Erinnerung an dieses Blümchen aus dem Staub sehr. Für mich kommt etwas dadurch in dieser wahnsinnigen Welt wieder in Ordnung, verstehen Sie das?

Nein, aber sprechen Sie!
Schauen Sie sich doch um, diese allgegenwärtige Gier nach „Events“ und dabei tonnenweise schlechte Laune. Da stellt man sich irgendwann die Frage: Wie war denn die angebliche Friedenswelt wirklich beschaffen, in der man groß wurde?

Wie lautet die Antwort?
Als Philosoph ist man angehalten, über den Gartenzaun zu blicken. Kriege, Hungersnöte, Versklavungen, Schlimmeres noch. Kant sprach vom radikal Bösen. Ich halte, sozusagen trotz allem, an dem fest, was mir die Erinnerung an Gutem, Schönem und Wahrem zuspielt.

Kirschen und Gänseblümchen. Das hat etwas von Weltflucht.
Stimmt. Aber ich rede hier exemplarisch. Da sind doch auch all die wunderbaren Sachen, die Menschen einander bereiten können, um zu zeigen, dass sie einander zugetan sind, einander lieben, dass sie fähig sind, human zu sein. Können, sage ich …

Haben Sie etwa Zweifel daran?
Nein, Kafka hatte unrecht, als er sagte, ein Zeichen beginnender Erkenntnis sei der Wunsch zu sterben, weil diese unsere Welt aus hassenswerten Zellen bestünde. In meiner Erinnerung sind da viele kleine offene Zellen, durchlässige Waben, in denen all das geschieht, weswegen die Menschen hoffen, statt zu verzweifeln oder Amok zu laufen. Es gibt einen wunderbaren Song des Liedpoeten Leonard Cohen: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“, doch ich glaube, es ist nicht bloß das Licht von außen, das in die Dinge eindringt, es strahlt auch ein Licht von den Dingen aus – ein Licht, an das wir uns zeitlebens erinnern, bewusst oder unbewusst.

Nichts ist bloß von dieser Welt. Ist es das, was Sie mit dem Bild vom Licht sagen wollen?
Ja, irgendwie so, nichts ist völlig opak. In meinem Alter ist einem Kants gestirnter Himmel ferngerückt, man wird kurzsichtig, das Erhabene ist aber da, im Kopf, all das, was das Leben unauslöschlich bereichert: das Herumgehüpfe meiner Enkeltöchter heute und das Gänseblümchen vor Jahren und der Glanz der Kirschen am Beginn von all dem, was sich nun meinem Abend zuneigt. Ich werde geschwätzig, auch so eine Altersmarotte.

Andere werden im Alter gallig und einsilbig. Sie nicht?
Was das Gallige betrifft, da gibt es so einen dummen Spruch. Demzufolge muss man im Alter tüchtig reaktionär sein – weil: jetzt kennt man die Welt ja, nicht wahr? Aber die großen alten Kritiker des Weltgeistes und seines grausigen Ausgusses, die ich persönlich kannte, waren im Herzen alle jung geblieben: Robert Jungk, Vilém Flusser, Adolf Holl …

Die dachten auch nicht daran, dass sie den Mund halten sollten.
Ja, klar, sie sahen, bevor sie selbst abtraten, ihre Mission wohl eher darin, es den Herren und Damen dieser Welt noch einmal tüchtig hineinzusagen. Die einen taten es mit Lust am apokalyptischen Ton, die anderen fochten mit der feinen Klinge der Ironie. Schweigsam waren sie alle nicht, obwohl insgeheim keiner dachte, die Welt ändern zu können.

Ist das eine Frucht des Alters?
Hoffentlich, jedenfalls sollte man sich nicht grummelig zurückziehen und von irgendwelchen Jungspunden, bloß weil jung sind, von oben herab sagen lassen, wo’s langgeht. Genauso wenig sollte man den Oberlehrer des Lebens spielen. Da ist dann meist viel zu viel Besserwisserei im Spiel, durchmischt mit Starrsinn und anlaufender Demenz.

Was ist die richtige, eines Philosophen würdige Haltung?
Fragt sich ein Philosoph das selbst ernsthaft, ist er meines Erachtens eine Witzfigur, ein aufgeblasener Frosch. Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass mit meinem Alter der Löffel größer geworden sei, mit dem ich, wie das geflügelte Wort sagt, „die Weisheit gefressen“ habe. Wahr ist vielmehr: Ich schreibe gerne, obwohl ich alles zehnmal umschreiben muss und es sich dann erst recht wieder spießt. Ich wäre, wenn ich unbedingt was sein müsste, ein Kleinsisyphos der großen Worte. Das ist wohl das Schicksal, das mir zugedacht wurde.

Das Scheitern gehört also dazu?
Ja. Nein. Na ja. Man ist allzu leicht bereit, hier eitel zuzustimmen, weil das Scheitern eine Aura verleiht. Man muss beim Scheitern gleich an griechische Helden denken, der Stallgeruch der antiken Tragödie haftet an ihnen. Das Schicksal fesselt sie an die Vergangenheit, das Scheitern ist ihnen in die Wiege gelegt. Und das ultimative Scheitern lautet immer: Tod!

Womit wir bei den Letzten Dingen wären. Wie halten Sie es damit?
Ich kann mich erinnern, dass ich schon als Kind beim Aufwachen immer dachte: Irgendwann muss ich sterben. Aber das ließ mich kalt, trübte meine Laune keineswegs. Denn es war ein sehr beruhigender zweiter Gedanke, dass es bis dahin lange dauern würde. Und dann, irgendwann, verdarb mir die Philosophie die Laune. Montaigne lehrte im 16. Jahrhundert, „Philosophieren heißt sterben lernen“, und Heidegger sprach im 20. Jahrhundert vom „Vorlaufen zum Tod“. Scheußlich. Ich halte es lieber mit Woody Allen, der sagte: „Ich habe keine Angst vorm Sterben, ich möchte bloß nicht dabei sein, wenn es passiert.“