Herr Köhlmeier, was löst der Siebziger bei Ihnen aus?
Michael KÖHLMEIER: Es ist ja nicht so, dass ich das vorher nicht gewusst hätte. Aber Geburtstage machen einen älter. Weil so viele herschauen.

Empfinden Sie allein schon die Frage danach als Zumutung?
Überhaupt nicht. Von allem Anfang an wird die Zukunft kleiner. Immerhin habe ich bereits eine ziemlich lange Vergangenheit.

Spüren Sie das Befristetsein?
An den Tod habe ich schon gedacht, als ich zwanzig war. Wir wissen nichts, nichts, nichts. Mit Woody Allen: Ich bin dagegen.

Sie schreiben mehr denn je.
Weil ich mich weniger leicht ablenken lasse. Eine Alterserscheinung. Man unterscheidet besser zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Der Poesie kann das allerdings schaden. Die Schönheit liegt im Unwesentlichen.

Und das reizt Sie?
Man müsste sich den Blick eines Säuglings aneignen können oder den eines Sterbenden. Wenn es einem gelänge, so auf die Welt zu schauen, als sähe man sie zum ersten oder zum letzten Mal, dann erschiene plötzlich alles wesentlich! Es gäbe nichts Unwesentliches mehr. Nur wenige Autoren vermögen das. Peter Handke kann es. Das macht einen, wenn man seine Bücher liest, ganz atemlos.

Freuen Sie sich für ihn, dass er den Nobelpreis bekommt?
O ja! Er hat ihn sich verdient. Es ist schön, dass der Preis diesmal nach ästhetischen Gesichtspunkten vergeben wurde. Handke wird trotz seiner politischen Einstellungen wirklich nur für seine Poesie geehrt.

Viele kreiden ihm seine Parteinahme für Serbien in den Jugoslawienkriegen an. Sie nicht?
Ich nehme es ihm auch übel. Aber es macht ihn nicht zum schlechteren Poeten. Man verdrängt das irgendwie bei ihm.

Weil das Werk für sich spricht?
Von Homer und Shakespeare, den größten Schriftstellern des Abendlandes, weiß man fast gar nichts. Aber jeder kennt Achilles, Odysseus, Romeo und Julia und Othello. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als wenn das Werk übermächtig ist und der Autor dahinter erlischt.

Hätten Sie auch lieber so eine Existenz im Verborgenen geführt?
Ich habe Thomas Pynchon immer dafür bewundert, dass es ihm geglückt ist, sich völlig rauszuhalten. In New York gab es diesen Graffitikünstler. Phase 2 hat der sich genannt. Niemand wusste, wer er ist. Er wurde später in Museen ausgestellt. Die anderen Sprayer haben ihn vergöttert. Wenn die alle im Café beieinanderhockten, hat er gelästert, er finde Phase 2 gar nicht so gut. Das hat ihm eine diebische Freude bereitet. Das habe ich verpasst.

Ist Ihnen der Lichtkegel der Öffentlichkeit unangenehm?
Schon, ja. Ich weiß nicht, was ich dann sagen soll. Es gibt Autoren, die geben tolle Interviews. Thomas Bernhard war so einer. Was er gesagt hat, habe ich immer besser gefunden als das, was er geschrieben hat. Das suchterzeugend Monotone der Bernhard’schen Prosa hat mich nie angesprochen. Ich habe das Gefühl gehabt, wenn du einen Roman von ihm gelesen hast, hast du alle gelesen. Und ich bin kein Suchtmensch. Bernhard war eins mit seinem Werk.

Sind Sie das nicht?
Mein Werk kümmert sich wenig um mich. Ich glaube nicht, dass man mich aus meinem Werk so ohne Weiteres rekonstruieren könnte. Ich interessiere mich für mich selber als Protagonisten meiner Werke recht wenig. Wenn ich „Ich“ schreibe, habe ich das Gefühl, das bin nicht ich. Es ist die literarische Figur, die „Ich“ sagt. Das soll so sein.

In Ihrem neuen Buch loten Sie mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann die menschlichen Abgründe aus: Betrug, Lüge, Eifersucht, Verrat. Fällt es leichter, das Böse zu schreiben als das Gute?
Die Hölle inspiriert uns mehr als der Himmel. Woraus entsteht eine Erzählung? Aus einem Konflikt. Ein Konflikt aber kann auf heitere oder grauenhafte Weise gelöst werden. Sowohl Komödie als auch Tragödie sind in ihm als Möglichkeit enthalten. Im Himmel gibt es, jedenfalls in unserer Vorstellung, keine Konflikte, also auch keine Tragödien, und zum Lachen gibt es auch nicht viel. Haben Sie je ein Gemälde vom Himmel gesehen, auf dem sich die Engel vor Lachen auf die Schenkel schlagen? Die menschlichen Leidenschaften haben dort keinen Platz. Daher sind die Dichter am Himmel gescheitert.

Sehen Sie sich selber als einen leidenschaftlichen Menschen?
Ich sehe mich als Menschen, der sich begeistern kann. Aber Begeisterung hat auch immer etwas Naives, das an Dummheit grenzt. Meine lebenslange Begeisterung für Bob Dylan – da gäbe es viele Songs, die ihm nicht so gut gelungen sind. Aber soll ich mich bei diesem großen Werk ausgerechnet darauf konzentrieren? Das würde ich nicht wollen. Nicht Bob Dylan zuliebe, sondern meiner Begeisterung zuliebe. Und das hat ein bisschen etwas Dümmliches.

Sie sind leidenschaftlich auch in Ihrer Ablehnung, etwa wenn Sie Sebastian Kurz der Niedertracht zeihen. Was empört Sie so an ihm?
Seine aufgeräumte Art, so zu tun, als ob er über allem stünde. Ich, Sebastian Kurz, patze niemanden an. Und dann bei jeder Gelegenheit erwähnt er den Herrn Silberstein. Und mich regt auf, wie er und die Schöne mit dem Schlangengesicht auf der Regierungsbank im Parlament mit dem Handy gespielt haben, als Pamela Rendi-Wagner am Reden war. Um aller Welt zu zeigen, dass die politische Gegnerin und das, was sie sagt, ihm am Arsch vorbeigehen. Kurz hat der ganzen Nation das Verhalten eines aufsässigen, schlechten Schülers gezeigt. Aber ich habe so oft Negatives über ihn gesagt, dass es reicht, auch mir selber. Ich habe mich an Kurz abgeärgert, ich will mich nicht mehr über ihn ärgern.

Sie tun es aber. Tragen Sie damit nicht zur immer stärkeren Emotionalisierung von Politik bei?
Wieso sollte man Politik entemotionalisieren? Das kann man gar nicht. Wir sind keine Automaten. Wolfgang Sobotka ist vor einiger Zeit durchgedreht, hat im Plenum gebrüllt. Er hat sich dafür entschuldigt. Ich hab mir gedacht: Parlament kommt von parlare, von reden. Wo, wenn nicht im Parlament, sollte es möglich sein, dass ein Abgeordneter in höchster Erregung brüllt? Das gehört dazu. Da finde ich es viel schlimmer, mit dem Handy zu spielen. Kurz ist es gelungen, binnen kürzester Zeit aus der parlamentarischen Debatte einen bösen Streit zu machen, aus der Auseinandersetzung ein Anpatzen, ein Wort aus der Sandkiste. Er hat den Parlamentarismus in Misskredit gebracht. Jetzt rede ich schon wieder von ihm.

Ist aber nicht auch die moralische Dauerentrüstung Gift für die Demokratie? Wer sich empört, muss nicht länger argumentieren, denn er ist ja im Besitz der Moral.
Jeder, der leidenschaftlich für eine Sache wirbt, wird das letztlich mit moralischen Gründen tun. Auch derjenige, der behauptet, es täte der Demokratie besser, wenn wir nicht moralisch argumentieren. Was ist das anderes als moralisches Denken? Alle sagen, Schluss mit der Moral. Ist Moral so schlecht?

Ist unsere Demokratie bedroht?
Nein. Aber das heißt nicht, dass es keine demokratiegefährdenden Elemente gibt. Ich habe nichts dagegen, dass im Parlament der Herr Kickl sitzt, der vom Polizeistaat träumt, solange ihm nicht die Macht gegeben wird, allen anderen seine Vorstellungen aufzuzwingen.

Warum schätzen immer weniger Leute die Demokratie?
Weil sie so selbstverständlich geworden ist. Ich liebe Schokolade. Aber ich singe nicht bei jedem Stück, das ich nasche, ihr Lob. Gäbe es keine Schokolade mehr, würden mir viele Argumente dafür einfallen. Unsere Demokratie ist gefestigt. Aber man muss sich von der Vorstellung lösen, dass sie ein Zustand ist. Die Demokratie ist ein Prozess. Es ist so, wie wenn einer mit fünf Bällen jongliert und die Leute sagen, so hör doch endlich mit der Zappelei auf! Willst du uns nicht endlich zeigen, was genau du da machst? Hält er aber inne, fällt alles zusammen. Und so ist das auch mit unserer Demokratie: Sie muss in Bewegung gehalten werden. Man muss immer auf sie achtgeben.