Sie schauen besser aus als früher.
PETER HANDKE: Das sagt man von allen älteren Arschlöchern.

Jünger.
Nein.

Doch.
Die Fotos von damals sind so schlecht. Ich habe mich ja nie als schön empfunden.

Sondern?
Als seltsam, lebendig. Das Problem damals wie heute ist: Wenn ich fotografiert werde, bin ich öffentlich. Und in der Öffentlichkeit bin ich im Grunde kein Mensch. Da bin ich fern vom Ich, da bin ich jemand anderer. Aber nicht im guten Sinn.

Weil Sie die Öffentlichkeit deformiert?
Ich beherrsche mich öffentlich entweder zu gut oder zu schlecht. Ich habe kein Maß für mich in der Öffentlichkeit.

Ist das Alter etwas Schönes oder ein Ärgernis, das zu Schwermut führt?
Eigentlich ist es schön. Morgen kann es wieder anders sein. Aber jetzt bin ich dankbar.

Dankbar wofür?
Dass ich halbwegs noch die Augen öffnen kann und die Stimme erheben kann und schauen kann und hören kann, gehen kann vor allem. Dankbar fürs Leben, fürs Leben als Geschenk. „Lebensgeschenk“ hat Hermann Lenz das genannt.

Die Gereiztheit, nimmt die ab mit dem Alter oder eher zu?
Ich versuche, mich zu beherrschen. Aber ich bin gereizt, ja. Ich bin ein gereizter Menschenfreund.

Im jüngsten Buch heißt es: „Ich habe die Menschen über.“
Nein, das darf man nicht. Das gehört sich nicht. Es verbietet sich. Viele wahre Sachen fangen mit „es“ an.

Hält Sie die Gereiztheit wach?
Ohne Gereiztheit würde ich nichts Schönes sehen, würde ich nicht wirklich tief eingeschnitten werden von manchen Anblicken, von manchen Wörtern und Worten. Gereiztheit ist die Grundbedingung. Natürlich ist die Ruhe viel schöner. Aber die Ruhe ist nicht von vornherein da. Die Ruhe muss werden.

© Wolfgang Zajc

Früher konnten Sie Leute für ein unbedachtsames Wort mit der Macht Ihrer Worte zermalmen.
Das war einmal.

Müssen wir Angst haben?
Noch nicht. Aber stellen Sie Ihre Fragen.

Sind Sie einsam?
Unsinn.

Einsam sind Sie, wenn Sie in Gesellschaft sind, haben Sie einmal gesagt.
Als Junger wollte ich immer einsam sein. Und ich war einsam. Das habe ich erst später gemerkt. Die Einsamkeit war, dass mir die Einsamkeit gefehlt hat. Gefühlt habe ich damals eine Sinnlosigkeit, eine Ausweglosigkeit, eine Stumpfheit. Einsamkeit klingt so schön. „Soledad“ heißt sie auf Spanisch.

Aber Einsamkeit ist nicht schön, auch wenn sie schön klingt.
Das stimmt, schauen Sie die alten Menschen an überall. Wenn man nur einen auf der Straße wahrnimmt, seine Augen, wie die aus ihrer furchtbaren Einsamkeit heraus ein Leuchten bekommen. Die Einsamkeit ist etwas Hartes, Kaltes, Bösartiges.

Sie leben allein hier?
Ich arbeite hier allein.

Ist das Alleinsein eine Bedingung des Schreibens?
Leider geworden. Schreiben ist ja nicht immer harmonisch. Da kommen Momente, wo man auf des Messers Schneide schreibt. Da kann es schon seltsam sein, wenn dann die Familie da ist. Das war eines der Probleme hier im Haus. Es ist sehr hellhörig. Man musste den Kindern sagen: Bitte seid still, nicht laut gehen. Und das hat mir dann auch wieder ein schlechtes Gewissen gemacht, dass die Kinder so still sein mussten.

Schreiben und die Ehe, ist das unversöhnlich?
Es geht schwer, aber es geht, muss gehen. Aber jeder geht da anders zugrunde.

Sie leben getrennt zusammen?
Ja, ja, wir sehen uns drei, vier Mal in der Woche am Abend in Paris mit Kind. Da gehe ich dann hin. Aber das Problem ist nicht zu lösen. Ich bin ja für Familie. So ein Schriftsteller, der sagt, ich darf keine Familie haben, der geht mir von vornherein auf die Nerven.

© Wolfgang Zajc

Sie haben einmal gesagt, die Sache mit Mann und Frau kann nur in Tragödien enden. Ist das so?
Ja, das sagt man so, wenn man jung ist.

Ein anderer sein, wollen Sie das im Alter immer noch?
Nein, ich möchte besser ich selber sein. Das Problem ist das Problem der Reinheit.

Was ist die Reinheit?
Ohne Schmutz gibt es keine Reinheit. Die Sprache der großen Bücher, sie wäre ohne viel Schmutz nicht möglich gewesen. Ich selber sehne mich auch nach Reinheit. Aber das schaffe ich nur durch Spracharbeit, Satzarbeit, rhythmische Arbeit, Absatzarbeit, Bildarbeit und – ja – auch musikalische Arbeit. Das ist für mich Schriftstellersein heutzutage. Das meine ich mit der Reinheit.

Mögen Sie noch gerne, was Sie früher mochten: die Beatles, die Stones, Kino, das Unterwegssein?
Ja, wenn ich die Rolling Stones oder Beatles von Weitem höre, zufällig, irgendwo in einem Café, bin ich ganz erschüttert.

© Wolfgang Zajc

Wieso erschüttert?
Na gerührt, bewegt. Ich bin bewegt. Weil das war so eine Zeit, das war meine Achtundsechzigerzeit. Da bin ich erwacht aus meiner Seminarzeit. Ich war ja nie Achtundsechziger. Ich war ja das rote Tuch von denen. „Literatur ist tot“, hat der Scharlatan Enzensberger gesagt, der sich als Dichter ausgibt und nie im Leben ein wirkliches Gedicht geschrieben hat. Für mich sind das meine Feinde. Und wo das hingeführt hat, hat sich später ja auch gezeigt. Von Cohn-Bendit bis Joschka Fischer.

Wohin hat das geführt?
In eine totale Unkultur, in die Unkultur, genau zu wissen, wo die Guten und wo die Bösen sind. Aber 68 und davor die Beatles, das war für mich die Musik. „Love Me Do“ und „All My Loving“. Mensch, habe ich mir damals gedacht: Das ist das Leben. Und immer noch, wenn ich das von ferne höre, denke ich: Ja, das ist das Leben.

Was hören Sie jetzt?
Johnny Cash. Ich könnte ihn endlos hören.

Ist er besser als die Beatles?
Ich würde es nie vergleichen. Seine letzte Platte ist eine Abschiedsplatte, wo er aus dem Leben geht. Er weiß, er singt zum letzten Mal. Und das ist so was von ernsthaft und zugleich heiter. Oder Leonard Cohen. Ich habe ihn nie mögen als Junger. Aber jetzt! Der hat in den letzten zehn Jahren so großartige Lieder geschrieben. Man hat ja Bob Dylan für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Aber da bin ich fast eher noch für Cohen.

Oder für Peter Handke?
Das passt nicht zu mir. Preise passen nicht zu mir. Kleine Preise, ja. Die passen gut zu mir. Ein Preis, den es noch nicht gibt, über den würde ich mich freuen. Vielleicht kommt er noch. Im Himmel, oder wo.

© Wolfgang Zajc

Der Nobelpreis ist es nicht?
Nein. Es gibt so typische Nobelpreisträger wie Vargas Llosa oder Günter Grass. Das ist scheußlich. Das ist der Tod der Literatur. Der Nobelpreis ist ja etwas ungeheuer Politisches. Aber das sagt ja jeder, weiß ja jeder. Der Nobelpreis hat auch wirklich abgewirtschaftet. Seit zwanzig Jahren hat kein Lyriker mehr den Preis bekommen. Das ist seltsam, oder? Lyrik ist doch die Essenz von Literatur!

Immer mehr junge Leute haben Schwierigkeiten mit dem Lesen, können nicht sprechen über das, was sie gelesen haben.
Das geht mir manchmal auch so. Aber das Gelesene bleibt ja in einem. Ich habe als Junger Tolstoi, Dostojewski, Camus, William Faulkner, die Odyssee und Georges Bernanos gelesen. Aber ich hätte das nicht wirklich ausdrücken können.

Was man liest, muss in einem erst reifen.
Ja. Und wenn es nur eine Zeile ist, kann es zwanzig Jahre später plötzlich wiederkommen. Als Rettung. Es geht dann auf. Es geht so auf wie eine Schneerose.

Sie gehen viel, ist das eine Möglichkeit, die Dinge in sich reifen zu lassen?
Gehen ist essenziell. Bergaufgehen vor allem.

Gehen Sie täglich?
Ja, auch jetzt im Schnee. Ich gehe immer. Zuletzt in Friaul. Ich gehe. Das Wort „wandern“ mag ich ja nicht. Das klingt so nach Alpenverein. Aber gehen. Weit gehen. Weit muss es sein. Ohne das aber in Zahlen messen zu wollen. Weil das Leben kann man nie in Zahlen erzählen. Manche tun das. Die sagen, ich habe zwanzig Kilo Steinpilze gefunden in zwei Minuten. Das sind Arschlöcher. So kann man doch nicht über Steinpilze reden.

© Wolfgang Zajc

Die haben keine Ehrfurcht.
Ja, da ist keine Ehrfurcht.

Sie leben seit Jahrzehnten hier in Chaville, sind Sie hier zu Hause?
Nein, das nicht. Relativ zu Hause.

Paris ist der einzige Ort, sagten Sie einmal. Ist das noch so?
Paris ist nicht das Einzige, nein. In Paris erlebe ich eigentlich nichts. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine Geschichte heute noch in Paris spielt. Paris braucht das nicht mehr. Die Vororte schon. Die brauchen das, das Gesehenwerden, das Erzähltwerden. Die Peripherie ist das Fruchtbare.

Auch hier sind Sie am Rand.
Das ist ja nicht mehr Paris, das ist ein wirkliches Niemandsland. Zwischen dem Leid und dem Nichts wähle ich das Leid, schreibt William Faulkner. So denke ich immer. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Innenstadt und Peripherie, wähle ich die Peripherie. So wie ich zwischen Whisky und Sliwowitz den Sliwowitz wählen würde.

Sie mögen das Wort „Heimat“ nicht, „Heimweh“ aber schon.
„Domotoje“ heißt es auf Slowenisch.

Heißt das, dass es Heimat ohne Schmerz nicht gibt?
Gut gesagt, ja. Wenn die Leute nur alle das annehmen würden, wenn die Heimat nicht nur die sonnige Bastion ist, die man verteidigen muss, so wie in Kärnten! Jeder weiß es im Grund anders. Trotzdem macht man aus der Heimat, auch der Sprache, aus dem Deutschen gegenüber dem Slowenischen eine Ideologie. Vielleicht ist es ja besser geworden. So lange die Wirtschaft geht, ist die alte Ideologie versteckt. Wenn aber die Wirtschaft nicht mehr geht, dann kommt alles wieder heraus.

Wie erklären Sie sich das?
Der Historiker Fernand Braudel hat das mit der langen Dauer erklärt. Er glaubte, dass zwischen den Völkern die Beziehungen über die Jahrhunderte bestimmt sind von der langen Dauer. Zwischen Österreich und Frankreich war immer Feindschaft. Sie ist immer noch da. Das hat man im Jahr 2000 zur Sanktionenzeit gesehen. Da war Frankreich sehr feindselig gegenüber Österreich. Ich war empört. Der Bernard-Henri Lévy ist nach Wien gereist mit Michel Piccoli, eingeladen von Luc Bondy, und es war Boykott, und die haben Reden gegen das braune Österreich gehalten. Ich habe damals meinen Freunden, die das mitorganisiert haben, gesagt: Wir Österreicher kommen schon selber zurecht, wir machen das selber.

Hat die Distanz Sie Österreich nähergebracht?
Ja. Ich bin kein Nationalist. Aber ich werde Patriot, wenn mein Land so ungerecht dargestellt wird. Dann verteidige ich es, dann werde ich Österreicher.

Sie sagen: mein Land.
Ja, das ist mein Land.

„Das Fette, an dem ich würge: Österreich.“ Das ist von Ihnen. Sie würgen jetzt nicht mehr?
Ich würge nicht mehr. Das war damals so ein Moment. Ich war sehr reizbar, habe den österreichischen Dialekt nicht vertragen. Der Dialekt war für mich verbunden mit dem Aggressiven, Abtuenden, der Verachtung, die man gespürt hat. Inzwischen vertrage ich den Dialekt, weil ich ihn nicht mehr verbinde mit Haltung. Das ist auch eine Art von Reifen. Man reift ja nicht viel, aber ein bissel doch.

© Wolfgang Zajc

Bundespräsident Fischer hat Sie ermutigt, heimzukommen.
Ja, das stimmt, das war aber nicht ernst gemeint.

Er würde Sie dabei unterstützen.
Das ist ein typischer Bundespräsidentenspruch. Ich habe sogar ein Forsthaus besichtigt. Aber eigentlich wollte ich nur höflich sein. Aber das war ein Jammer, eine Bruchbude sondergleichen.

Verspüren Sie im Alter ein Verlangen, an den Ursprung zurückzukehren?
Nein, das habe ich nicht. Mein Pfarrer in Griffen droht mir immer an, ich soll mich beerdigen lassen dort. Warum nicht?

Aber wir haben nicht gemeint, zum Sterben heimkommen, sondern zum Leben.
Ich habe schon verstanden, ja. Kann schon sein. Aber ich habe meine Tochter hier. Léocadie ist neunzehn Jahre alt.

Was müsste das für ein Ort sein, an den Sie zurückkehrten?
Er müsste am Rand liegen, und ein Gasthaus müsste dort sein, ein paar Gasthäuser.

Eine Kirche?
Eine Kirche, natürlich, Messe ja. Glocke, dass man sonntags in die Kirche gehen kann. Und hügelig müsste es dort sein. Nicht richtig Gebirge.

Wind?
Wind, ja, und ein Bach, kein Fluss. Als ich ganz jung war, da wollte ich immer einen Riesenfluss. Aber ein Bach ist mir lieber.

Ihr Stück „Immer noch Sturm“, ist das nicht auch eine Art Heimkehr?
Es ist eine Art Heimatgeschichte, ein Lobspruch auf das Land, auf Österreich, auf die Landschaft, das schöne Kärnten, das schöne Jaunfeld. Ich habe fünfzehn Jahre herumgeträumt an diesem Stück. Ich wollte eine Tragödie schreiben über die Kärntner Slowenen. Eine Tragödie gerade deswegen, weil das Leute waren, die mit Tragödie nie etwas im Sinn hatten. Die Tragödie von Menschen, wo schon die Religion, dieser Kärntner-slowenische Katholizismus, sehr sanft war, ein edler, feiner, ein friedliebender Katholizismus. Für diese Menschen war die Zwischenkriegszeit, die für viele schlimm war, eigentlich die ideale Zeit. Es war die schöne Zeit, die Obstgartenzeit für den Bruder meiner Mutter. Der kam aus Maribor zurück, wo er zur Schule gegangen ist, und hat gesagt: Wir machen jetzt Obstgärten, wir machen all die Apfelsorten, wir machen die Terrassen, ja wir machen die hängenden Gärten von Griffen oder was. Kein Weltwunder, aber ein kleines Paradies.

© Wolfgang Zajc

Doch dieses Paradies, wie Sie sagen, hat nicht lange gewährt.
Ja, gerade diese Leute, die den Frieden als Gene in sich gehabt haben, die mussten, als der Krieg losgegangen ist, als Hitlers Zwangssoldaten einrücken und durften nie mehr ihre Sprache sprechen. Dabei war die Sprache für diese Burschen und Mädchen alles. Das war wirklich Heimat, bedrohte Heimat. Das weiß kein deutschsprachiger Kärntner, was das bedeutet. Die sind von der Front gekommen und ihre Familien waren nach Deutschland verschleppt, die Höfe von Deutschen besiedelt. Da sind sie dann in den Wald und haben sich zu wehren begonnen. Der Widerstand war gar nicht so geplant. Die wussten ja gar nicht, was Widerstand ist. Und das ist eine herrliche Geschichte, eine gewaltige Geschichte.

Poetisieren Sie den Partisanenkampf da nicht ein wenig?
Was heißt poetisieren? Poetisieren heißt ja nicht, dass man es verfälscht. Poetisieren heißt nicht idealisieren oder das auf ein Volkslied zu bringen, was da eigentlich Schmerz ist. Poetisieren heißt, die tiefere Wahrheit zu finden, die nie auf einen Endpunkt zusteuert, sondern offenbleibt. Poetisieren ist keine Willkür. Sie kommt aus einem großen Gefühl. Poesie ist das Natürlichste im Menschen. Sie kann aus Wut kommen, aus Zorn, Liebe, aus Erschütterung.

© Wolfgang Zajc

Was antworten Sie Leuten, die sagen: Herr Handke, die haben nicht für uns gekämpft, die wollten etwas anderes, eine andere Zugehörigkeit, ein anderes Land?
Viele wollten das, andere wieder nicht. Nach der Enttäuschung, die sie erlebt haben auch mit Österreich zwischen den zwei Weltkriegen, kann man es vielen nicht verdenken, dass sie gedacht haben, Jugoslawien wäre die Lösung. Österreich hat ja versagt. Österreich wollte die gar nicht. Niemand wollte die. Keiner hat die verteidigt. Die Sprache wurde ihnen genommen, im Dritten Reich dann zur Gänze. Viele ernsthafte Menschen sind ins KZ gekommen, nur weil sie den Partisanen ein Stück Brot gegeben haben, und sind dort gestorben.

Dieses Bild von den friedfertigen Slowenen, wie geht das zusammen mit den Gegenbildern? Mit den Männern, Kindern und Frauen, die mit Stacheldraht gefesselt von Partisanen in die Karsthöhlen geworfen wurden?
Sind Sie sicher, dass das die Kärntner Partisanen waren? Das ist doch entscheidend. Das waren die Tito-Partisanen von unten, oder? Die Geschichte ist etwas unendlich Scheußliches. Aber die Rache, die Rache ist mein, sagt Gott. So steht es in der Bibel. Ich sage das nicht. Das Einzige, was Rache rechtfertigt, ist, wenn man keine Begründung hat. Wenn sie physikalisch ist. Wenn man die ganze Weltgeschichte aus physikalischen Prinzipien erklären könnte, dann würde ich Geschichtsschreiber. Nur dann. Also Hieb, Stoß, Gegenstoß. So ist es. Aber wenn die wirklich Frauen und Kinder mit in die Karsthöhlen geschmissen haben, dann ist das für ewig verwerflich.

Das Stück ist auch die Geschichte Ihrer lieben Vorfahren, die Sie zu neuem Leben erwecken. War diese Wiederbegegnung ein schmerzhafter Prozess?
Da war kein Schmerz, es war schön, es war lebendig. Es ist ja alles auch ein bisschen ironisch. Wir sind ja schließlich keine Könige. Oder doch? Ja doch! Ihr seid Könige, ihr Vorfahren und ich bin der Nachkommenzwerg. Ihr seid die Könige, ihr seid die Herzoge von Kärnten, ihr gehört auf den Herzogstuhl. All diese einfachen Leute, die dort ihre Arbeit gemacht haben, die getanzt und gesungen haben. Das sind für mich die natürlichen Könige! Ich scheiße auf die wirklichen Könige!
Es fällt auf, dass Sie nur die slawische Hälfte der Familie aus dem Totenreich herausführen. Ihre deutschen Väter lassen Sie zurück.
Na, weil ich die anderen nicht kenne.

Sie verkörpern als Sohn beide Identitäten: die deutsche der Väter, die slawische der Mutter.
So ist es. Ohne diese beiden Schnittflächen wäre ich sicher kein Schreiber geworden.

Was ist stärker in Ihnen, das Slawische oder das Deutsche?
Manchmal, wenn ich mich nicht mag, ist das Deutsche stärker. Dann höre ich die Stimme meines Vaters, wie er gelacht hat. Er hatte so ein kleines, freudloses, meckerndes Lachen.

Und das Slawische?
Das habe ich nicht genug heraus.

Beim Bewirten auf jeden Fall.
Ja, da bin ich ein Balkanmensch. Ich bewirte die Leute gerne. Aber nicht immer.

Die Kirche war in Ihrer Jugend Ihre Verbündete. Ist sie das auch heute noch?
Es gibt keinen Besuch in der Heimat, ohne dass ich in die Stiftskirche von Griffen gehe. Auch der Friedhof ist dort, wo meine Mutter begraben ist, meine Schwester und auch die Großeltern. Dort gehe ich natürlich hin. Wo soll man sonst hingehen. Außerdem gibt es ein Wirtshaus dort.

Gehen Sie lieber in leere Kirchen oder in volle?
In volle.

Was finden Sie dort?
Ich gehe gerne in die heilige Messe. In leeren Kirchen, da kommt man sich so wie ein Besichtiger vor. Ich mag Kirchen nicht besichtigen.

Das Heilige, ist das für Sie wichtig?
Ja, das ist essenziell, ja. Die Messe, das Evangelium, die Apostelbriefe oder eine Lesung aus dem Buch Jesaja, das bewegt mich. Vor allem die Wandlung, wenn die Mitvergangenheit kommt. Die ganze Messe ist ja in der Gegenwart, eine Feier ist ja immer Präsens. Und plötzlich: Am Abend, bevor er gekreuzigt wurde, nahm er das Brot, brach es, zeigte es seinen Jüngern ... Da öffnet sich das Herz. Auch der Rosenkranz kann schön sein, diese Monotonie, das Meditative in einer dunklen Kirche. Das ist nicht gegen die Vernunft. Das erhöht die Vernunft.

Wie feiern Sie Weihnachten?
Weihnachten nervt mich. Advent ist schöner. So wie immer. Das Warten auf die Ankunft ist immer schöner als das Danach.

„Ich bin auf das Schöne aus“: Gilt das noch immer?
Natürlich. Für mich ist das Schöne aber nicht auf dem Plakat schön. Meine ältere Tochter hat als Kind einmal gesagt, das Schöne sieht man so schlecht.

Das Slowenische Ihrer Kindheit, gehört das zum Schönen dazu?
Nicht unbedingt. In der Schule war es unangenehm. Aber die slowenischen Litaneien in der Kirche, die waren schön, da bin ich zusammengeschaudert. Wenn das Deutsch gewesen wäre, wäre das wahrscheinlich nicht so gewesen.

In Griffen war früher das Slowenische als Alltagssprache allgegenwärtig. Heute ist es fast verschwunden. Dieses Versiegen der Sprache, was geht verloren?
Vor Kurzem war ich beim Pfarrer von Griffen. Der hat gesagt: Vor ein paar Wochen ist der letzte bekennende Slowene gestorben. Bekennend, damit hat der gemeint: Er hat die slowenische Kirchenzeitung noch bestellt. Aber es geht nie alles verloren; so wie im Karst, wo die Karstflüsse versiegen und mit einem anderen Namen beim Meer wieder aus dem Boden springen. Irgendwie geht es unterirdisch weiter und der Fluss kommt unvermutet wieder zum Vorschein. Das ist die Hoffnung, nein, etwas Stärkeres: Zuversicht.