In seiner Wohnung im römischen Stadtteil Prati hing eines jener Plakate mit bunten Szenen, mit denen im Sizilien seiner Kindheit einst die „cantastorie“, die Geschichtenerzähler, von Dorf zu Dorf tingelten. Das rare Erinnerungsstück war nicht nur Ausdruck von Andrea Camilleris tiefer Verwurzelung in dem von uralten Mythen durchwobenen Mikrokosmos der Heimatinsel. Am Ende wurde es zum Sinnbild der krankheitsbedingt erzwungenen Rückkehr des Autors zur mündlichen Erzählkultur seiner Vorfahren selbst: Im hohen Alter erblindet, konnte Camilleri seine letzten Romane nicht mehr von eigener Hand in die Schreibmaschine tippen, sondern musste sie diktieren.

Seinem unbändigen Schaffensdrang tat das keinerlei Abbruch. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er im antiken Theater von Syrakus mit seiner Nacherzählung der Geschichte des blinden Sehers Teiresias vor Tausenden gebannt lauschenden Zusehern einen fulminanten Bühnenerfolg gefeiert. Noch im Mai brachte Camilleri in seinem kleinen, feinen palermitanischen Verlag Sellerio den letzten Band seiner Krimireihe rund um Commissario Montalbano heraus, deren Erstling den langjährigen Angestellten der RAI und mäßig erfolgreichen Theaterregisseur ein Vierteljahrhundert davor über Nacht in ganz Italien berühmt gemacht hatte.

Einer der Gründe für den enormen Zuspruch lag wohl darin, dass viele seiner von Italiens Misere deprimierten Landsleute dem bekennenden Linken nur zu gern die Rolle des Propheten zugestanden. Doch die wahre Stärke des 1925 in Porto Empedocle geborenen Sohnes eines faschistischen Parteisekretärs war es nicht, die Dinge vorauszusehen. Sie lag in der Leichtigkeit, mit der er vor der Kulisse der fiktiven Kleinstadt Vigàta Gesellschaftsanalyse mit Sicilianità verband und so in seiner auf dialektaler Basis entwickelten, letztlich unübersetzbaren Kunstsprache scheinbar mühelos den Bogen von politisch hochexplosiven Themen wie Mafia und Bootsflüchtlingen zu Montalbanos kulinarischen Leidenschaften schlug.

Lebensfroher Utopist

Dabei war der eigenbrötlerische Kommissar gar nicht Camilleris Lieblingskreatur. Diese Ehre kam Zosimo von Girgenti zu, einem Bauern, der 1718 in Sizilien sechs Tage als König herrschte, ehe man ihn hängte. 2001 widmete der greise Autor dem gescheiterten Utopisten einen wunderbaren Schelmenroman. Lebensfroher Humanist, der er war, glaubte er, der König von Vigàta, bis zum Schluss an eine bessere Welt, daran, dass das Schreiben helfen und Hoffnung geben könne.