Der Kontrast hätte kaum größer sein können. Im trendigen Hafen von Tel Aviv, neben einem Bio-Bauernmarkt und einem teuren Modegeschäft, kamen Freitagabend Hunderte Israelis zusammen, um gemeinsam den Sabbat zu feiern. Die Gläubigen ehrten indes nicht nur den gottgegebenen Ruhetag, sondern vor allem ein Ereignis, auf das das Land sich seit einem Jahr enorm freut: den Eurovision Song Contest. Und so sangen die Teilnehmer die jahrtausendealte Liturgie nicht zu den bekannten rabbinischen Melodien. Der 3500 Jahre alte jüdische Psalm 95 erklang zur Auftaktmelodie des europäischen Gesangswettbewerbs, dem christlichen „Te Deum“ Marc-Antoine Charpentiers aus dem 17. Jahrhundert. Andere Gebete wurden zu Popsongs der 1970er-Jahre intoniert. Der Mischgesang überstimmte das Tosen der Wellen und das freudige Quietschen Dutzende Kinder, die wild durch die Gischt der Brandung laufend den Sonnenuntergang genossen. Ein Bild trauter, paneuropäischer Ökumene.

Nur eine Autostunde südlich spielten sich zur selben Zeit andere Szenen ab. Hunderte Palästinenser und israelische Soldaten lieferten sich an der Grenze zum Gazastreifen Scharmützel. Die einen warfen Steine, Brand- und Sprengsätze, die anderen antworteten mit Tränengas und Schüssen. Am Ende des Tages meldete das palästinensische Gesundheitsministerium den Tod eines Demonstranten.

Diese Woche wird Israel im Licht dieser Dichotomie stehen. Auf der einen Seite eine Feier nationalen Prestiges und der Versuch, Normalität vorzuleben. Die kosmopolitische Mittelmeermetropole Tel Aviv hat Millionen investiert, um den größten Gesangswettbewerb der Welt auszurichten. Am Strand errichtete sie ein riesiges „Eurovision-Dorf“ mit Dutzenden Restaurants. Autobusse werden Fans kostenlos von der Stadt zum Veranstaltungsort und wieder zurückfahren, zu stundenlangen Feiern, die hier allabendlich geplant sind. Vorsorglich wurde der Ladenschluss diese Woche auf Mitternacht verlegt.

20.000 Polizisten im Einsatz

Doch in Israel ist solche Freude nie ungetrübt. Mehr als 20.000 Polizisten sind diese Woche im Einsatz, um für Sicherheit zu sorgen. Die Armee hat Truppen rund um den Gazastreifen aufgefahren, als Warnung an die radikal-islamische Hamas dort, keinen weiteren Schlagabtausch zu riskieren. Dennoch wurden im ganzen Land vorsorglich Raketenabwehrbatterien aufgestellt, um einem Beschuss vorzubeugen.

Für Israelis und Palästinenser ist der ESC in Tel Aviv von großer symbolischer Bedeutung. Tel Aviv feiert ihn als willkommenen Hauch von Normalität, als Gelegenheit, sich fern des Krisenherds Nahost und als Teil Europas zu wähnen. Für die Regierung in Jerusalem ist der ESC eine einzigartige Chance, sich rund 1500 angereisten Journalisten und zig Millionen Fernsehzuschauern in aller Welt als attraktives Reiseziel zu zeigen.

Was Palästinenser enorm verärgert. Das Außenministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde klagte, Israel nutze den Liederwettbewerb, um „seine koloniale Besetzung zu festigen, indem es die weltweite Akzeptanz seines rechtswidrigen Verhaltens effektiv normalisiert“. Ein Künstlerverband mit Sitz im Gazastreifen forderte, dem ESC fernzubleiben, schließlich missbrauche Israel die Veranstaltung, um „die Unterdrückung fortzusetzen, Ungerechtigkeit zu fördern und sein brutales Apartheid-Regime zu beschönigen“. Andere wollen die Aufmerksamkeit, die dem ESC weltweit zuteilwird, für ihre Zwecke ausschlachten. So gelobten die Vertreter Islands, ihren Auftritt für politischen Protest gegen die Besatzung zu nutzen. Anhänger der Boykott-Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) drohten ebenfalls, den Ablauf des ESC in Israel zu stören.

Aufruf zum Boykott

Israel verfolgt diese Anstrengungen mit Sorge. Ein Sprecher des Außenministeriums teilte auf Anfrage unserer Zeitung mit, Aktivisten, die in der Vergangenheit zu einem Boykott Israels aufgerufen haben und damit gegen israelisches Gesetz verstießen, werde die Einreise verweigert. Es gebe indes keine spezifischen Vorwarnungen und es sei unklar, ob derart unerwünschte Personen „überhaupt versuchen werden, herzukommen.“

Der Boykottaufruf ist angesichts der zahlreichen Delegationen, die bereits angereist sind, fehlgeschlagen. Dennoch: Es kamen weitaus weniger ESC-Fans nach Tel Aviv als erhofft. Doch weder Furcht vor Terror noch die politische Lage hielten sie fern, sondern Israels exorbitante Lebenshaltungskosten. Zwar hielt Tel Avivs Stadtverwaltung Bars und Restaurants dazu an, die Preisschraube nicht zu sehr hochzudrehen. Doch da die Regierung den ESC kaum subventionierte, kosten Eintrittskarten zum Event drei Mal mehr als vergangenes Jahr. Hinzu kommen vergleichsweise hohe Flug- und Hotelpreise. Statt der ursprünglich avisierten 20.000 Touristen werden nun nur knapp 5000 hier erwartet. Die können sich indes auf ein warmes Willkommen freuen: Für die ganze Woche sagen Meteorologen durchgehend strahlenden Sonnenschein und Temperaturen um 30 Grad voraus.