Wie groß muss die Breite in einer musikalischen Jugendausbildung für so eine Spitze sein, wie sie die ORF-Show „Goldene Note“ zeigt?

ERNST SMOLE: Das kann nicht pauschal beantwortet werden. Wien einerseits und die Bundesländer andererseits sind Räume mit sehr unterschiedlichen soziokulturellen Voraussetzungen: In den Bundesländern geschieht der Instrumentalunterricht für Kinder und Jugendliche fast nur in Musikschulen und ist statistisch gut erfassbar. In Wien dagegen findet der Unterricht primär durch Privatlehrer statt und ist daher statistisch kaum bis nicht erfassbar. Evident ist, dass Spitzenleistungen auf Streichinstrumenten und am Klavier sehr oft aus Wien kommen – vermutlich, weil es in der Kulturstadt Wien Zigtausende Eltern gibt, die selbst Musiker sind. In den Bundesländern wiederum ist der Faktor Blasmusik prägend, der in Wien eine vergleichsweise untergeordnete kulturpolitische Rolle spielt.

Morgen geht in Salzburg das heurige Finale des 1994 gegründeten Jugendmusikwettbewerbs „prima la musica“ mit 543 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Bühne. Was bringen solche landes- und bundesweit gelegten „Messlatten“?

Den vermutlich höchsten Wert für die Teilnehmer generieren solche Bewerbe dann, wenn es weitsichtigen Organisatoren, Musiklehrern und Eltern gelingt, diese nicht als „Kampf jeder gegen jeden“ zu kommunizieren, sondern als entspannte Treffen junger Musiker, die sich gegenseitig zuhören und voneinander lernen. Denn die Erkenntnis, dass Kinder am besten von Kindern lernen, gilt ganz besonders auch für den Musikbereich.

Woran mangelt es in der Musikausbildung in Österreich?

Weltweit kann man grob zwei Organisationsformen des Instrumentalunterrichts unterscheiden. Einerseits die primär in Europa üblichen nachmittäglichen, schulgeldpflichtigen „Gettomusikschulen“, die meist in eigenen Gebäuden stattfinden und über keinerlei Verbindungen zur Regelschule verfügen. Im angloamerikanischen Raum hingegen findet der gebührenfreie Unterricht auf den klassischen Ensembleinstrumenten – Streicher, Bläser, Schlagwerk – als fixer Bestandteil des Fächerkanons an den Regelschulen in „Orchesterform“ statt. In diesen Modellen beherrschen die Kinder ihre im Ensemble erlernten Instrumente nach kürzerer Lernzeit besser als bei uns in Europa.

Und was sind die Stärken der Musikausbildung hierzulande?

Musikunterricht ist dann stärkenorientiert, wenn er nicht als Musikausbildung angelegt ist, sondern als Musikbildung. Ersteres bedeutet, dass lediglich die Beherrschung des Instruments angestrebt wird, also die „Verwendbarkeit“ junger Musiker in der Blasmusik oder eine Karriere als Wettbewerbsteilnehmer. Bildung aber stellt sich dann ein, wenn Kinder zusammenhängendes Wissen erfahren über das Werk, den Komponisten, die Entstehungszeit et cetera.

Wo stehen die Steiermark und Kärnten im Ausbildungsbereich?

Aus Wien und dem „Sonder-Glücksfall“ Oberösterreich mit seinen extrem niveauvollen und konsequenten kulturpolitischen Bemühungen kommen Spitzenleistungen aus allen Instrumentengattungen. In Restösterreich ist die Leistungsfähigkeit der Musikbildungssysteme geringer, aber annähernd gleich.

Wie liegen wir im internationalen Vergleich?

Der ist bei den unterschiedlichen Größen der Staaten kaum zu ziehen. Wichtig sind nationale Trends: In Österreich scheint die Spitze – siehe „Goldene Note“ – immer besser, aber auch immer schmaler zu werden. Die Breite scheint vom Niveau her eher abzubauen; auch hier ist offenbar das Phänomen der Spaltung angekommen, das wir in Österreich in vielen Gesellschaftsbereichen beklagen.

Sie sagen, der Zustand kultureller Bildung in Österreich sei allgemein blamabel: Können Sie das kurz für uns zusammenfassen?

Österreich hat im Verlauf der letzten 70 Jahre die künstlerisch-handwerklichen Gegenstände in den Schulen zurückgedrängt. Die Gründe sind vielfältig – die Dominanz technischer Fächer im Zuge des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, vieles andere mehr. Ein unerfreulicher Nebeneffekt ist, dass im Zuge der Pisa-Tests eine allgemeine Einengung der Bedeutung der Fächer stattgefunden hat, die wieder ganz besonders die künstlerischen Fächer betroffen hat. Das paradoxe, traurige Ergebnis: Je stärker man sich auf die Pisa-Testfächer konzentriert und die künstlerischen Fächer vernachlässigt hat, desto rapider ist es auch mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen bergab gegangen. Die Pisa-Gesamtleistungskurve deutet seit nunmehr 20 Jahren ausschließlich nach unten. Und eine aktuelle Studie der OECD weist Österreich bei der künstlerisch-kreativen Bildung die Schlusslichtposition zu.

Sie sind Vorstand des Nikolaus-Harnoncourt-Fonds in Wien. Der Namensgeber hatte ja stets beklagt, "dass Schüler immer mehr zu glatten Funktionierern und immer weniger zu kreativen Denkern ausgebildet werden". Was müssen die Pädagogik, die Gesellschaft, die Politik ändern?

Darüber zu diskutieren, was Kunst ist und was nicht, ist sinnlos, doch eines steht fest: Ein zentrales Element von Kunst ist Individualität, doch nicht alles Individuelle ist Kunst.  Was ist nötig? Wir müssen Kinder, Menschen jedes Alters, vom Kindergarten bis hin zum Pflegeheim, in ihrer Individualität wahrnehmen, diese behutsam und interessiert fördern und so den Menschen helfen, zu ihrem eigenen Ich zu finden. Künstlerische Bildung kann dazu wertvolle, lebensprägende Beiträge leisten - wenn man sie nur lässt...
Übrigens: „Kunst ist immer Regelverletzung“ - auch das war eine Überzeugung von Harnoncourt. Zwei Beispiele für Kunst durch Regelverletzung? Das erfolgreichste, das am öftesten gesungene Musikstück der Menschheitsgeschichte, das schöne Lied „Stille Nacht“, verletzt nicht weniger als viermal eherne Stimmführungsregeln der Zeit - Septimsprung, Umfang weit mehr als eine Oktave et cetera. Formal gilt das Stück als „unsingbar“! Oder: Lange vor und nach Beethoven war es ein ehernes Dogma der Kompositionslehre, dass das Hauptthema einer Sinfonie zwei zentrale Aufgaben hatte - das Tongeschlecht (Dur oder moll) und den Takt (gerade oder ungerade) klarzustellen. Das wohl berühmteste Hauptthema überhaupt, das „bum bum bum buuuuuum!“ von Beethovens Schicksalssinfonie, lässt sowohl Tongeschlecht als auch Takt offen - die gröbste Regelwidrigkeit, die man sich nur denken kann. Bei einer Kompositionsprüfung der beiden Genannten würde es wohl heißen: „Beethoven und Gruber - NICHT GENÜGEND, SETZEN!“

Wunderkinder

Rampenlicht und heiße Herdplatten: „Als Genie wird man geboren, zum Wunderkind gemacht“: Wieso Kinderkarrieren als problematisch gelten.

Von Ute Baumhackl

An ihm kommt keiner vorbei. Ein berühmteres Wunderkind als Wolfgang Amadeus Mozart gibt es nicht. Musikunterricht mit drei, erste „Compositiones“ mit fünf, erste Konzertreisen mit sechs. Als Siebenjähriger brach er mit der Familie zu einer dreieinhalbjährigen Europatournee auf. Schon auf Mozart lässt sich der Satz „Als Genie wird man geboren, zum Wunderkind gemacht“ anwenden.

Fakt ist: Ohne elterliche Unterstützung keine Kinderkarrieren. Wobei die Gagen heute oft nicht mehr zentral sind, zumal Wunderkinder – ein eigenes Kapitel – nicht selten gut abgesicherten Milieus entstammen.
Die härteste und glänzendste Währung der Gegenwart: der Ruhm. Und seit jeher wurden musikalische Wunderkinder besonders bewundert; von Franz Liszt bis Jascha Heifetz, von Clara Schumann bis Alma Deutscher: Die heute 16 Jahre alte Engländerin begann als Zweijährige mit dem Klavier, mit drei mit der Violine. Mit sieben komponierte sie ihre erste Kurzoper; im Salzburger Landestheater hat am Mittwoch ihr Opernwerk „Cinderella“ Premiere.

Deutscher gilt als von ihren Eltern gut gegen eine allzu aufdringliche Öffentlichkeit abgeschirmt. Aber der Vorwurf, ehrgeizige, gewinnsüchtige Eltern würden ihre talentierten Kinder ausbeuten, ist seit Mozart von vielen hässlichen Beispielen untermauert: Der Vater von Michael Jackson soll den Knirps geschlagen und auf die heiße Herdplatte gestellt haben, damit er sich beim Singen und Tanzen mehr anstrengte.

Trotz kritischer Berichte über prügelnde Väter und Tigermütter gilt: Nicht jedes Wunderkind wird zur Zirkusnummer dressiert. Anne-Sophie Mutter beschwor als Fünfjährige ihre Eltern, endlich mit dem Geigenunterricht beginnen zu dürfen. Lang Lang motivierte die Zeichentrickserie „Tom & Jerry“ zu Klavierspiel und Kinderkarriere.

Dass frühes Rampenlicht auch deformierende Wirkung haben kann, gilt dennoch längst als Allgemeinwissen. Insgesamt, argumentiert etwa der Psychiater Andrew Solomon in seinem Buch „Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind“, schade die Vermarktung musikalischer Wunderkinder ihrer Entwicklung; dazu hole die Aussicht auf große Karrieren auch aus wohlmeinenden Eltern nicht immer das Beste. Sein Zeuge: ein Pianist, den seine Mutter allzu streng zum Üben antrieb. Dessen Fazit heute: „Man sollte eine Zulassungsprüfung bestehen müssen, um sich als Eltern eines talentierten Kindes zu qualifizieren.“