Was ist, wenn vor dem Tod die Bilder eines Lebens noch einmal an einem vorüberziehen und alle so ausschauen wie die digitalen Überbleibsel einer Existenz, die sich auf Instagram und in Chats abgespielt hat? Es ist der digitale Abglanz eines Lebens, der aus binären Codes fabrizierte giftig-blaue Schein, der Violettas nahenden Tod begleitet, bevor sie ins letzte Licht gehen darf. Das flimmert und flackert nicht mehr, das leuchtet. Ein finaler Moment der Gnade und des Friedens in einer „La Traviata“, die Regisseur Simon Stone sehr konsequent in die Welt der Gegenwart übertragen hat. Violetta ist keine tuberkulöse Salondame, sondern eine Influencerin mit Millionen Followern, eigener Parfummarke und lukrativen Werbedeals, die ihre Haut zu Markte trägt und ob der ganzen Imagepflege ihr Inneres verkümmern lässt.

Bevor sie der Krebstod ereilt erlebt sie aber noch eine echte Liebe. Es ist der größere Schwachpunkt von Simon Stones Regie, dass er eine hanebüchene Background-Story um eine saudische Familie dazuerfinden muss, um die Intrige noch plausibel zu machen. Kebab-Standl, Uber-Dienst, Neon-Deko à la Bruce Nauman, Traktor und Chemotherapie: All diese „Modernisierungen“ sind überhaupt kein Problem, doch dass die moralischen Werthaltungen, die die Liebe in „Traviata“ scheitern lassen, schon vor Jahrzehnten verblichen sind, kann Stone nicht einfach so weginszenieren.

Eine filmreife Inszenierung

Die Details in der Personenführung verlieren sich zwar vor dem Hintergrund der blinkenden Drehbühne und in der Weitläufigkeit des Saals – sie sind eher für die Nahaufnahmen im Fernsehen tauglich. So wie Stones abstrahierende, manierierte Bilder überhaupt mehr Wirkung in einem visuellen Medium wie dem Film erzeugt hätten. Trotz aller Einwände – diese fahle, vom Digitalen in Beschlag genommene Menschenwüste, die Stone präsentiert, ist durchaus spannend: Weil der Regisseur nicht plump moralisiert und die Geschichte nicht überinterpretiert.

Die Wiener Staatsoper bietet ein vokales Spitzentrio auf, um diese bereits in Paris gezeigte Produktion mit musikalischem Sinn zu füllen: Es gelingt fast durchwegs ausgezeichnet. Pretty Yendes von Rossini und dem Belcanto Bellinis herkommende, leichte, helle Perlmutt-Stimme hat an Verdi-Qualitäten und reiferen Farben dazugewonnen. Sie ist freilich immer noch keine große Tragödin, aber eine mit feiner Lyrik, wunderbarer Höhe und recht sicheren Koloraturen agierende Sängerin, der manchmal Volumen und Dampf fehlen. Gerade das „Sempre libera“ enttäuscht ein wenig, wohingegen das tragische Ende des sterbenden It-Girls und der aus Liebe Verzichtenden mitreißend gelingt.
Juan Diego Flórez singt einen erwartungsgemäß sehr schlanken, raffiniert phrasierenden Alfredo: Die Höhenlage gehört zu seinen angestammten Jagdgründen, aber viel spektakulärer sind Linienführung, Pianokultur und die romantischen Dolci. Vermutlich würde sich die Eleganz von Flórez‘ Darstellung erst in einer Aufführung mit historischen Instrumenten ganz entfalten können. Der einzige originäre Verdi-Sänger – falls man solche Maßstäbe anlegen möchte und Verdi nicht zu leichtgewichtig besetzt haben will – ist Igor Golovatenko, der für den Germont Klangfülle und Linie, Farbe und Dramatik im Gleichgewicht hält. Ein fokussierter Bariton, ganz ohne Larmoyanz.

Dirigent Giacomo Sagripanti hält sich zurück und sorgt dennoch für pulsierende Italianità er, drosselt in den ruhigen Passagen das Tempo, um im Crecsendo wieder aufs Gas zu steigen. Das macht Effekt, und das Staatsopernorchester versteht es, seinem Verdi Seele und Feuer zu geben. Das orchestrale Besondere, die eigene Handschrift vermisst man an diesem Premierenabend, der – vergessen wir das nie – den Krisenzeiten abgetrotzt werden musste. Und allein das verdient höchste Bewunderung.