Morgen, einen Tag nach seinem 80. Geburtstag, wird Plácido Domingo auf der Bühne stehen. In der coronabedingt gesperrten Wiener Staatsoper gibt er die Titelpartie in „Nabucco“. Zu sehen am Sonntag im ORF. Seit 64 Jahren tritt Domingo auf. Domingo war der Jetset-Tenor der 70er und 80er. Mehr als 150 Partien hat er verkörpert, ein einsamer Rekord. Er interpretierte alle auch nur irgendwie für seine Stimme infrage kommenden Partien im italienischen und französischen Repertoire, er sang später Wagner und Strauss, Operette und Schlager. Domingo spielte in Opernfilmen mit („Carmen“, „Otello“, „La Traviata“) und war mit José Carreras und Luciano Pavarotti Teil eines Dreigestirns, das alle Klassik-Verkaufsrekorde pulverisierte. Und als sich seine Stimme absenkte, wurde er vom gefeierten Tenor zum geliebten Bariton.

Die Daten seiner Karriere sind imponierend, ja einzigartig. Doch Domingo hat für diese Erfolge bezahlt. Die Vielfalt im Repertoire erkaufte er sich mit einem gewissen Maß an Austauschbarkeit. Bis auf wenige Paraderollen, die er unvergleichlich gesungen hat (etwa Verdis Otello) klingt Domingo immer ziemlich gleich, was nur markentechnisch gescheit sein mag. Bei seinem gewaltigen Arbeitspensum blieb offenbar nicht genügend Muße, an den Interpretationen zu feilen. Etwas, was die großen Sänger aber oft auszeichnet. Domingo blieb meist der mitreißende Interpret, dessen Al-fresco-Porträts von heißblütigen Männern jedoch gestalterische Tiefe und vokale Finesse bisweilen abgehen. Etwas, was er mit ausgezeichnetem Schauspiel und ungeheurem Charisma auf der Bühne leicht vergessen lässt.

Auch seine Ausflüge im Repertoire hat man ihm übel genommen: Dabei lag ihm das Exotische von Wagners Lohengrin oder das Kantable eines Tannhäuser. Dass er in den letzten Jahren als Bariton weitermachte, sagt viel über Domingos Ehrgeiz, über seine Opernbesessenheit aus. Er interpretiert diese Partien gut, aber ohne je wie ein echter Bariton zu klingen. Wobei sein rubinroter Tenor eigentlich eine baritonale Färbung hätte. Es ist eine Luxusstimme, die er fast unausgesetzt expressiv und mit viel Druck dahinströmen lässt, in der ganz hohen Lage war sein Tenor dagegen begrenzt.

Seiner Karriere hat das nicht geschadet: Geboren 1941 in Madrid, lebt er erst in Mexiko, debütiert mit 16 Jahren mit der Zarzuela-Truppe seiner Eltern. 1967 feiert er sein Debüt in Wien, 1968 in New York, 1969 in Mailand, 1975 in Salzburg. Er nimmt viele Platten auf, wechselt zeitweilig ins Regie- und Dirigentenfach und übernimmt 1996, längst der „Primo uomo“ der Opernwelt, die Leitung der Oper in Washington, ab 2003 die Direktion der Oper in Los Angeles.

Im Jahr 2019 fällt ein Schatten auf diese Weltkarriere. Nach einer peniblen, monatelangen Recherche veröffentlicht die Presseagentur AP ein Dossier, in dem etwa 20 Frauen sexuelle Übergriffe von Domingo bezeugen: Er habe demnach seine Machtstellung für verbale und handgreifliche Belästigungen ausgenutzt. Domingo trat in der Folge als Opernchef zurück, räumte Fehler in seinem Verhalten ein und entschuldigte sich. Einige Opernhäuser lösten die Verträge mit ihm, andere – wie etwa die Salzburger Festspiele und die Wiener Staatsoper – hielten ihm die Treue. Ob dem Frauenliebling, dem die Herzen auf der Bühne zuflogen und den die Fans am Bühneneingang abpassten, irgendwann der Bezug zur Realität abhandenkam, darüber lässt sich nur spekulieren. Dass der Betrieb voller MeToo-Geschichten steckt, ist kein Geheimnis, Domingo war ein Fallbeispiel in einem unwürdigen System.

Domingo steht aber vor allem für den rastlosen Starbetrieb der Klassik, der in den letzten Jahrzehnten dominant wurde. Ein System, das fast die ganze Öffentlichkeit für sich beanspruchte: Eine glanzvolle, aber auch ein bisschen oberflächliche Kunst- und Marketingwelt, in welcher Substanz, Vielfalt und Ensemblekultur empfindlich gelitten haben. Domingo, der unermüdliche, von Bühne zu Bühne eilende Alleskönner war einer der Protagonisten dieses Systems.

Sendehinweis:„Nabucco“ von Giuseppe Verdi aus der Wiener Staatsoper, 24. Jänner, 20.15 Uhr, ORF III.