Feuertrunken! Was für ein Wort! In der deutschen Sprache ist es bis zum späten 18. Jahrhundert unbekannt, und das legendäre Grimm’sche Wörterbuch verzeichnet nur zwei Fundstellen: In einer Novelle von Friedrich Müller, auch Maler Müller genannt, ist von einer „feuertrunknen Seele“ die Rede, und in Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ betreten wir „feuertrunken“ das Heiligtum dieser Tochter aus Elysium. So sparsam also dieser Neologismus verwendet wurde, so groß ist der Assoziationsreichtum, den er auszulösen vermag. Da wir bei diesem Begriff Schillers Verse so im Ohr haben, wie es uns vor allem Beethovens Vertonung dieses Gedichts in seiner 9. Symphonie nahelegt, tendieren wir dazu, dieses „feuertrunken“ mit gehörigem Pathos aufzuladen. Das Feuer kann dann die lodernde Flamme der Leidenschaft oder der Freiheit sein, es ist die innere Glut, die Begeisterung, der Enthusiasmus, der uns antreibt, die Welt zu verbessern und der Humanität zum Durchbruch zu verhelfen (....)

Etwas anders aber stellt sich dieses wunderbare Wort „feuertrunken“ dar, wenn wir es ein wenig in seinem Entstehungskontext betrachten. Schiller schrieb die 9-strophige Ode An die Freude, die er übrigens für nicht besonders gelungen hielt, im Herbst des Jahres 1785, noch nicht einmal 26 Jahre alt, animiert durch eine Zeit intensiv erlebter Freundschaften. Höhepunkt war ein geselliges Trinkgelage am 13. September, bei dem Schiller die Freunde aufforderte, die schon mehrmals geleerten Rotweingläser auf dem Steinboden mit dem Ruf „Keine Trennung! keiner allein! sei uns ein gemeinsamer Untergang beschieden“ zu zerschmettern. Hören wir hier schon das „Alle Menschen werden Brüder“ heraus? Auch wenn es uns heute fast despektierlich erscheinen mag: Schillers Ode An die Freude war ein emphatisches Trinklied, Schillers Spitzname war nicht umsonst „Trinker“ gewesen, und das „feuertrunken“ bezeichnet weniger das Feuer der Rebellion, das den taumelnden Freunden durch die Seelen geronnen sein mag, als vielmehr das Brennen des Alkohols, der durch ihre Kehlen floss.

Was Beethoven an Schillers Text fasziniert hatte, lässt sich relativ leicht erschließen: Beethoven litt unter der Restauration und dem Neo-Absolutismus der Metternich-Ära, und Schillers das Pathos der Menschheitsverbrüderung verkündende Ode „An die Freude“ schien durchaus geeignet, einen politischen Kontrapunkt zu den herrschenden Verhältnissen zu liefern. Die ungestüme Freude, die Lust am Leben, die Ekstase und der Rausch haben in der Tat eine subversive Kraft. Gerade die moderne Verbotsgesellschaft, die im Namen der Moral und politischen Korrektheit alles untersagen möchte, was in einem existentiellen Sinn Freude bereitet und nicht nur Ausdruck einer normierten Unterhaltungs- und Spaßgesellschaft ist, weiß davon ein Lied zu singen.

Beethovens Symphonie aber wurde nicht zuletzt wegen des Schillerschen Textes zu einem ideologischen Spekulationsobjekt ersten Ranges. Aus der langen Reihe der weltanschaulichen Instrumentalisierungen und Vergewaltigungen der 9. Symphonie seien lediglich einige Beispiele zitiert. (...)

Anlässlich einer von Wilhelm Furtwängler dirigierten Aufführung am 19. April 1942, am Vorabend von Hitlers Geburtstag, nannte sie Joseph Goebbels „die heroischste Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmte“. Die Versuche, die Ode „An die Freude“ solchen Vereinnahmungen durch ein verbrecherisches Regime zu entreißen und ihre Idee der Freiheit und Menschlichkeit politisch wieder zu rehabilitieren, mündeten in dem Entschluss Leonard Bernsteins, nach dem Mauerfall bei zwei von ihm dirigierten Aufführungen der 9. Symphonie in Berlin die „Freude“ im Text durch die „Freiheit“ zu ersetzen: „Freiheit, schöner Götterfunken“. Aus Schillers Trinklied war nun im Wortlaut jene Freiheitshymne geworden, zu der die zweifelhafte Erhebung des Hauptthemas des Chorfinales zur Europahymne es ohnehin schon gemacht hatte. Seit den entsprechenden Beschlüssen des Europarates und der EU hören wir, wenn wir Beethovens umstrittenes Hauptwerk hören, eine politische Hymne – eigentlich ein unerträglicher Gedanke auch dann, wenn die besten Absichten damit verbunden sein mögen. (...)

Die Lust der Gemeinschaft, die Freuden der kollektiven Ekstasen, die feuchtfröhlichen Freundesrunden kennen keine Einsamen, keine Außenseiter, keine Melancholiker, keine Unglücklichen. Diese werden verbannt. Auch die feuertrunkene Freude kann in eine eisige Kälte umschlagen. Jean Paul, der große Romancier und Humorist, Zeitgenosse Schillers und ebenfalls ein großer Trinker, hat dies gespürt und angemerkt, er würde einem Bund, der dieser Maxime folgte, den Rücken kehren. Poetischer und menschlicher, so Jean Paul feinfühlig, wäre es gewesen zu schreiben: „Und wers nie gekonnt, der stehle weinend sich in unsern Bund!“ Denn die „liebeswarme Brust will im Freudenfeuer eine arme erkältete sich andrücken“. Zu dieser Humanität, die den Freudlosen in die Freude miteinschließt, die dem Einsamen eine Heimat bietet, die den, der nicht mitfeiern kann, aus der fröhlichen Runde nicht verbannt, war der junge Schiller nicht fähig gewesen. Diese Hoffnung Jean Pauls einzulösen bleibt eine Aufgabe, die diese Ode, dieser feuertrunkene Gesang bis auf Weiteres an uns stellt. Daran sollten wir vielleicht denken, wenn wir uns an Beethovens 9. Symphonie im Abschlusskonzert dieses Carinthischen Sommers berauschen werden.