Sie haben für Ihre Inszenierung an der Staatsoper die gesprochenen Dialoge der „Leonore“ gestrichen. Warum?

AMÉLIE NIERMEYER: Der Text von Joseph Sonnleithner ist sehr zeitverhaftet und dient vor allem als Motor für die Handlung. Uns war wichtig, den Fokus auf Leonore zu richten. Sie ist die titelgebende Figur, hat aber in der ursprünglichen Fassung wenig Raum, sich zu äußern. Bei uns sollen ihre Beweggründe für ihr Handeln, ihre Fragen und Zweifel im Zentrum stehen. Moritz Rinke hat für uns innere Monologe geschrieben, die als Zwiegespräch zwischen der Sängerin und einer Schauspielerin dienen, die ihr Alter Ego ist.

Wie sieht Ihr Konzept aus?

AMÉLIE NIERMEYER: „Leonore“ ist heute extrem aktuell, weil die Gefängnisse in vielen europäischen Ländern überfüllt sind mit Menschen, die öffentlich ihre politische Meinung vertreten haben. Leonores Vision ist es, die Ketten der Gefangenschaft durch Liebe zu sprengen. Wir wollen die Entwicklung Leonores zeigen, von der Frau, die ihren Mann retten möchte, hin zur Frau, die erkennt, dass sie dafür auch gegen ein ganzes System ankämpfen muss. Ich finde den Gedanken Beethovens großartig, durch Liebe politische Veränderung zu erzielen. Das sind die zentralen Gedanken der Aufklärung, die er in seinem Werk verarbeitet hat. In unserer heutigen Zeit, in der Konflikte immer wieder eskalieren, ist Leonores Gedanke immer noch revolutionär.

Transferieren Sie die Handlung in die Gegenwart?

AMÉLIE NIERMEYER: Jedes Stück, das ich inszeniere, überprüfe ich zunächst darauf, was heute an dem Werk relevant und interessant ist. Das heißt aber nicht, es zu verbiegen oder ihm ein Konzept zu überzustülpen. Ich nehme die Utopie Beethovens sehr ernst. Bei uns spielt die Handlung in einem ausrangierten Bahnhof, der zum Gefängnis umfunktioniert wurde, weil alle anderen Gefängnisse überfüllt sind.

Sie inszenieren sowohl Oper als auch Schauspiel. Was lieber?

AMÉLIE NIERMEYER: Musiktheater folgt ganz anderen Parametern als das Sprechtheater. Hier gibt die Musik den Rhythmus und die Atmosphäre vor. Dort kann man mit Texten natürlich freier umgehen, das Kürzen oder Umstellen von Dialogen ist gang und gäbe. Beides hat seinen ganz eigenen Reiz und erfordert eine komplett andere Vorbereitung. Im Musiktheater steht die Inszenierung bereits am Probenbeginn fest. Im Schauspiel entsteht vieles erst im Probenprozess. Sänger und Sängerinnen, die mit ihrer Stimme arbeiten, brauchen eine klare Arbeitsstruktur. Schauspielende würden klare Vorgaben als einengend empfinden und möchten vieles ausprobieren, bevor eine Entscheidung gefällt wird.

Sie wurden in Bonn geboren, so wie Beethoven. Prägte Sie das?

AMÉLIE NIERMEYER: Sehr, ich habe auch im Klavierunterricht vieles von ihm gespielt, und seine Musik hat in meiner Familie eine große Rolle gespielt.

Sopran Jennifer Davis (rechts) als Leonore, Schauspielerin Katrin Röver als ihr Alter ego
Sopran Jennifer Davis (rechts) als Leonore, Schauspielerin Katrin Röver als ihr Alter ego © Staatsoper/Pöhn