Klaustrophobisch eng ist der Raum. Die Wände sind vollgepflastert mit ihren Fotos. In der Mitte ein Panzerschrank. Geöffnet sieht man einen Schrein mit brennenden Kerzen, in deren Mitte eine Haarsträhne - die Perücke einer Krebskranken: So sehen Regisseur Simon Stone und sein Bühnenbildner Ralph Myers die „Kirche des Gewesenen“. Diese Reliquienkammer ist das Zentrum des weißen Bungalows von Paul, wo er alle Erinnerungsstücke an seine geliebte, verstorbene Marie in beschrifteten Kisten penibel geordnet aufbewahrt und die nur mit Latexhandschuhen angefasst werden dürfen. Hier in der Stadt Brügge ereignet sich seine düstere Geschichte, wo er um seine verstorbene Frau Marie völlig zurückgezogen trauert. Er lernt die Tänzerin Marietta kennen, und projiziert in sie seine verstorbene Frau. Er verfällt ihr und erlebt albtraumartig sogar, sie ermordet zu haben. Realität und Traum vermischen sich. Schließlich löst er sich mit Hilfe seines Freundes Frank aus der Vergangenheit und verlässt die Stadt.

In der Eröffnungsproduktion der neuen Saison der vom Steirer Nikolaus Bachler geleiteten Bayrischen Staatsoper mit Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ gelingt es dem Regisseur - eine Überarbeitung seiner Inszenierung aus 2016 vom Theater Basel - genau dieses Changieren zwischen Realität und Wahnvorstellungen packend zu zeigen. Stone, der mit Aribert Reimanns „Lear“ 2017 und Luigi Cherubinis „Médée“ 2019 bei den Salzburger Festspielen internationale Anerkennung erlangte, zeigt dabei weniger ein morbides Brügge als einen thrillerartigen Albtraum. Dabei zerbrechen oder verschieben sich immer wieder die Räume des Bungalows aus den 60er Jahren, sind plötzlich an anderer Stelle oder gar einen Stock höher. Türen führen ins Nichts oder sind auf einmal zugemauert, Räume nicht mehr erreichbar. Gleich gekleidete Kinder (Kostüme: Mel Page) tollen im Haus herum und formieren sich zu einer gespenstisch wirkenden Prozession. Beim Durchschreiten der Räume auf der viel benützten Drehbühne, wo Filmplakate von Michelangelo Antonionis „Blow up“ und Jean-Luc Godards „Pierrots le fou“ an den Wänden hängen, begegnet Paul zahlreichen Doubles von Marie/Marietta und von sich selbst. Mag das eine oder andere vielleicht doch etwas plakativ wirken, denn eigentlich ist das Werk viel symbolistischer und abgründiger angelegt, so packt diese Inszenierung mit mitreißender detaillierter, ausgefeilter Personenführung insgesamt.

Albtraumhafte Szenen in einem weißen Bungalow
Albtraumhafte Szenen in einem weißen Bungalow © Hösl/Staatsoper

Wenn man heute von Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) spricht, denkt man in erster Linie an ihn als Schöpfer von mit Oscars prämiierten Filmmusiken. Aber er komponierte aber auch viel klassische Musik. So im Jahre 1920 die Oper „Die tote Stadt, deren Libretto sein Vater Julius nach dem Roman „Bruges-la-Morte“ von Georges Rodenbach verfasste. Als „stärkste Hoffnung für die neue deutsche Musik“, bezeichnete ihn kein Geringerer als Giacomo Puccini.

Im Alter von erst 23 Jahren schuf der österreichische Komponist, der als „verfemter“ Komponist wegen des Naziregimes später in die USA emigrieren musste, dieses Geniewerk. Die Partitur ist überfüllt von Stilen und pendelt zwischen aggressiver Harmonik, spätromantischen Schwulst und Impressionismus. Zudem hat Korngold mit „Mariettas Lied“ und dem „Tanzlied des Pierrot“ zwei Ohrwürmer ersten Ranges geschaffen, deren melodiöse Schlichtheit beeindrucken. Unter einem sehr differenzierten und feinsinnigen Kirill Petrenko, dem frisch gebackenen Chef der Berliner Philharmoniker, lassen das Bayerische Staatsorchester seine Musik schillern, funkeln und glitzern sowie glockenläutend zu einem prächtigen Klangkolorit aufblühen. Atmosphärische Dichte und aufwühlenden Dauererregung sind angesagt, wobei auch die Durchhörbarkeit nicht zu kurz kommt. Die orchestralen Zwischenspiele haben Gänsehautfaktor.

In den extrem schwierigen Partien brillieren Marlis Petersen als Marie/ Marietta sowie Jonas Kaufmann als Paul: Sie mit strahlender Höhe, mit vielen Nuancen in den Lyrismen und dramatischen Ausbrüchen. Zudem erweist sie sich als Singschauspielerin ersten Ranges als flatterhafte, mädchenhafte aber auch heißblütige Künstlerin. Er gefällt in der kräfteraubenden Partie mit schönem, baritonalen und schmelzigen, Timbre tollen Höhen und vielen Schattierungen. Es ist allerdings auch eine Rolle, die ihn, wie man merkt, sehr fordert. Warm timbriert ist der Frank/Fritz des Andrzej Filonczyk. Ideal besetzt ist auch die Rolle der Haushälterin Brigitta mit Jennifer Johnston. Auch die kleineren Rollen, wie auch der Chor und Kinderchor der Bayerischen Staatsoper klingen tadellos.

Stehende Ovationen!