Was bei Ex-Intendant Alexander Pereira als konzentrierter, aus aller Welt bestückter, mitunter auch folkloristischer Konzertreigen zu je einer Weltreligion begonnen hat, wurde von Markus Hinterhäuser zu einem Festival im Festival umgedeutet: Eine Woche, herausgestohlen aus dem glamourösen Großevent mit den Großkünstlern und den Großprogrammen, ein Geschenk an dramaturgische Feinschmecker und musikhistorische Nischengeschöpfe. Das heurige Thema lautet "Passion" - für die Ouverture - und wird für das Gesamtfestival um "Ekstase" und "Leidenschaft" erweitert.

Pendereckis "Lukaspassion", 1966 in Deutschland uraufgeführt und in Polen, der Heimat des Komponisten, inmitten von Unruhen gegen das antireligiöse kommunistische Regime gefeiert, steht paradigmatisch für das Zusammenspiel aus Zeitgenossenschaft, tief empfundener sowie traditionell verankerter Religiosität und einer Kunst aus dem Leid, die vor dem menschlichen Abgrund schöpferische Blüte erreicht. Sie ist - sie war - Avantgarde, erweiterte die Klangsprache um Facetten, die heute selbstverständlich sind, und steht zugleich fest auf dem Boden der Musikgeschichte.

Nicht zuletzt in ihrer Funktion als Passion, als Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu Christi, in diesem Fall relativ frei nach dem Lukasevangelium, reiht sie sich in eine lange Reihe großer Oratorien. "Aber sie ist auch das Leiden und der Tod von Auschwitz", sagte der Komponist über seine "Passio et mors Domini nostri Iesu Christi secundum Lucam", wie das komplett in Latein gehaltene Stück für Soli, Sprecher, drei Chöre, Knabenchor und Orchester eigentlich heißt.

In der wuchtigen Felsenreitschule haben sie alle gut Platz: Das Orchestre Symphonique de Montreal, dessen Chefdirigent Nagano ist, und mit dem auch Penderecki bereits viel gearbeitet hat. Der Philharmonische Chor Krakau, der in seinen vielen sprechenden, singenden, Geräusche aller Art produzierenden Funktionen große Versatilität beweist, der Warsaw Boys' Choir und die hervorragenden Solisten Sarah Wegener, Lucas Meachem, Matthew Rose und - als oben im einzigen Gesteinsfenster platzierter Erzähler - Slawomir Holland. Besonders Bariton Meachem empfahl sich mit seinem berührenden Christuspart für höhere Festspielweihen nach diesem Debüt.

Chefdirigent Nagano, der in der Neuen - und auch nicht mehr ganz so Neuen - Musik stets das Überzeitliche, die DNA der musikalischen Ausdrucksform freilegt, fungiert in diesem unerbittlich dramatischen Werk zumindest so sehr als Regisseur, wie als Dirigent. Er inszeniert das Geschehen rund um den letzten Weg Jesu Christi wie einen allgemeinmenschlichen Thriller vor dem ewigen Gestein der Felsenreitschule.

Der Donner des Schlagwerks, die Kinderstimmen, die in ehernem Latein vom Tode Christi künden - "Consummatum est" -, die bittersüß eingestreuten Klagelieder und Psalmen, empfindsam intoniert von Sarah Wegener, das Keifen und Geifern des Chores in der Pilatus-Szene und seine umso größere Empathie im "Stabat Mater", die würdevolle Verletzlichkeit von Meachem als Solo-Jesus: es ist ein musikalisches, biblisches Drama ersten Ranges, das sich an diesem allerersten Festspielabend abspielt. Und ist damit auch schon Vorschau, über die Passion der Ouverture hinaus - zur Ekstase, die über die kommenden sechs Wochen zu steigern sein wird. Überschwang gab es jedenfalls bereits im Schlussapplaus, nicht zuletzt für den anwesenden Krzysztof Penderecki.