Sie kommen direkt von der Generalprobe und der anschließenden Manöverkritik. War die für Ihre Verhältnisse eher lang oder kurz?

ALEXANDRA LIEDTKE: Kurz und gut. Manchmal braucht es allerdings auch zwei Stunden. Das Schwierige dabei ist immer: In welche Richtung kann ich die Künstler mit meinen Korrekturen noch lenken, ohne weitere Probe und ohne sie mit einer ganz neuen Aussage ungeschützt in die Premiere hineinzuschicken? Man könnte natürlich noch endlos weiterarbeiten.

Da ist es vermutlich wie mit einem Brief: Wenn er erst geschlossen ist, fallen einem bestimmt noch weitere Gedanken ein, die man gern mitgeschickt hätte, oder?

ALEXANDRA LIEDTKE: Ja, aber einmal kommt der Zeitpunkt, da man diesen Brief wegschicken muss, bei der Premiere veröffentlichen muss. Dem muss man sich stellen, obwohl man am liebsten wegrennen möchte.

Bei unsere letzten Interview anlässlich Ihrer Regiearbeit am Grazer Schauspielhaus Strindbergs „Fräulein Julie“ fragte ich Sie, wie denn Ihr Puls direkt vor Premieren so sei. Sie sagten: „0!“ Nun ist „Samson et Dalila“ von Camille Saint-Saëns Ihr Debüt an der Wiener Staatsoper, da müsste der Puls ja eigentlich ins Minus gehen.

ALEXANDRA LIEDTKE: Natürlich verspürt man an so einem berühmten Haus dementsprechenden Druck. Aber es geht wie überall um die künstlerische Herausforderung und den Respekt vor den Menschen, mit denen man arbeitet. In dem konkreten Fall habe ich samt Chor mit mehr als 100 Künstlern auf der Bühne zu tun und nicht mit drei. Aber die Regiearbeit ist immer gleich spannend und fordernd, nämlich ein bestmögliches künstlerisches Ergebnis zu erzielen. Das Adrenalin bleibt jedenfalls da wie dort nicht aus.

Sie haben mit Sprechtheater angefangen. Wie war denn für Sie der Wechsel zum Musiktheater, in dem eine zusätzliche Ebene hinzukommt und die Partitur ein strenges Korsett vorgibt?

ALEXANDRA LIEDTKE: Das Wort Korsett benutze ich selber, aber für mich ist es positiv konnotiert. Manche Regisseure empfinden die Musik ja als Einschränkung, ich empfinde sie als schön. Die Musik ist für mich wie ein Freund, der mich stützt, und man kann nicht gegen sie arbeiten, weil sie eine Form der Wahrheit ist und den Weg vorgibt. Man muss der Musik nur folgen, in ihr steckt schon alles drin – wann die Liebe groß ist, der Verrat, die Traurigkeit, der Zweifel. Im Sprechtheater muss man all das erst selber finden, erfinden, da bin ich selbst die Komponistin für Tempo, Rhythmus, Lautstärke, für Helles und Dunkles.

Sind Sie denn auch Musikerin?

ALEXANDRA LIEDTKE: Es hilft mir bei der Regiearbeit sehr, dass ich Querflöte gelernt habe, Noten und Partituren lesen kann und ein gutes Gehör habe.

Über „Samson et Dalila“ heißt es immer: schwierige Oper. Was ist denn für Sie schwierig daran?

ALEXANDRA LIEDTKE: Es gab für mich zwei Herausforderungen: Sie ist ja als Grand Opéra geschrieben, klingt aber wie ein Oratorium, vor allem im ersten und dritten Akt. Da gibt es fast keine szenischen Vorgänge, außer den versehentlichen Mord des hebräischen Anführers Samsons an Abimélech, dem Statthalter der Philister. In der Bibel wird von den Heldentaten und Rachefeldzügen Samsons viel erzählt, aber diese Geschichten stellt die Oper gar nicht zur Verfügung und konzentriert sich im Wesentlichen auf das Beziehungsdrama zwischen Samson und Dalila. Die Frage ist also: Wie füttere ich die Figuren in Akt 1 und Akt 3 mit Handlung, und wie halte ich diese Teile samt den großen Chorszenen in Balance mit dem sehr porösen, zarten Akt 2, in dem neben dem Hohepriester dann nur noch die zwei Hauptfiguren auf der Bühne stehen. Saint-Saëns hat ja Dalilas zentrale Liebesarie „Mon cœur souvre à ta voix als Kern der Oper zuerst geschrieben und von dort zum Anfang und zum Ende weiterkomponiert. Darum war es mir wichtig, die Konflikte des Paares im Mittelakt ganz deutlich zu machen und damit Akt 1 und Akt 3 zu legitimieren.

Deswegen als Bühnenbild also der schwarze Kubus, die scherenschnittartigen Türszenen und das Bad, in dem die Tragödie der Spitze zutreibt?

ALEXANDRA LIEDTKE: Ja, um ganz stark auf Samson und Dalila zu fokussieren. Sie könnten ein echtes Liebespaar sein: Sie mögen sich wirklich, finden einander attraktiv, aber der Druck ihrer Völker gibt ihnen keine Chance.

Sie inszenierten unter anderem „Fräulein Julie“ in Graz, „Fräulein Else“ in Reichenau, aber Dalila – die ist nun so gar kein „Fräulein“.

ALEXANDRA LIEDTKE: Nein, sondern eine starke, emanzipierte Frau. Aber es war schwierig, eine Balance für sie zu finden. In der Aufführungsgeschichte und mehr noch in der Bibel ist sie nämlich als gänzlich böse Verführerin, als Rächerin dargestellt, und als eine, die auch noch Geld dafür nimmt, Samson das Geheimnis seiner Unbesiegbarkeit – sein ungeschorenes Haupthaar – zu entreißen. Ich habe die Oper zunächst auch so verstanden, merkte aber schnell: Nein, da wird noch was ganz anderes erzählt: Saint-Saëns gibt ihr so viel Raum Poesie, schöne Momente. Diese Frau empfindet etwas. Elīna Garanča war auch hoch interessiert an dieser zweiten Schicht ihrer Figur, die Herz und Verstand hat. Warum zaudert Dalila? Sie trägt nicht nur Kälte und Falschheit in sich, sonst wäre sie ein bloßes Werkzeug, um Samson zu seiner Prophezeiung zu verhelfen. Letztlich sind beide Helden einsam.

Eine Zuhörerin murmelte nach der öffentlichen Generalprobe etwas von „autistischer Liebe“ der beiden. Lassen Sie die Figuren deshalb so aneinander vorbei spielen, singen?

ALEXANDRA LIEDTKE: Ja, genau darum. Samson und Dalia spüren die Lust und Hoffnung, zueinander zu finden. Aber sie sind zwei nicht im selben Moment Liebende, sind zur falschen Zeit am falschen Ort.

Connie Palmen beschreibt in ihrem neuen Buch „Die Sünde der Frau“ die Einsamkeit von Frauen anhand der Beispiele Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Patricia Highsmith und Jane Bowles. Sie zeigt, wie Frauen zerstört werden, die sich gesellschaftlichen Konventionen verweigern, und kommt sinngemäß zur These: Männer, die einsame Wölfe, „lonesome cowboys“ sind, sind immer irgendwie heroisch. Frauen hingegen gar nicht, sie werden durch ihre Unangepasstheit oft in die Einsamkeit gedrängt und bestenfalls als Außenseiterinnen betrachtet, eher als Femme fatale oder Hure.

ALEXANDRA LIEDTKE: Verlassene Liebhaberin, unschuldiges Mädchen, heilige Mutter: Ja, es gibt wenige changierende Frauenfiguren in der Geschichte, und schon gar in der Operngeschichte. Und wenn, dann werden sie oft als Mannweib gesehen.

„Die Waffen der Frauen“, das dumme Wort muss wohl ein Mann erfunden haben – als ob man mit Anmut oder Schönheit schießen könnte. Vielmehr müsste es „Entwaffnung durch Frauen“ heißen. Dennoch: Die „Männin“ Dalila schlägt Samson mit dessen Waffen, mit List und Gewalt, oder?

ALEXANDRA LIEDTKE: Wenn sie wie ein Mann handelt, dann handelt Samson weiblich, denn am Ende des zweiten Aktes verrät er Gott, sein Volk und sein Geheimnis, nur um sich endlich der Liebe hinzugeben.

Das Volk: Hier die unterdrückten Hebräer, dort die unterdrückenden Philister: Religionen waren und sind ständige Frontstellungen. Haben Sie daran gedacht, die Oper so zu deuten?

ALEXANDRA LIEDTKE: Die Überlegung gab es natürlich, denn ich kenne keine andere Oper, die sich so leicht auf die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung übertragen ließe. Aber ich bin bald davon abgewichen, weil ich keine bestimmte Zeit und Situation darstellen wollte. Dazu müsste man ja auch werten, sich positionieren, und das möchte ich nicht: Man lernt so viele Menschen und Meinungen kennen, da wie dort, und erweitert damit seine Sicht. Doch damit erwirbt man noch nicht das Recht zu entscheiden: Das ist richtig und das ist falsch. Eigentlich sind Religionen wertvolle Erfindungen, um das menschliche Zusammenleben zu ermöglichen, aber sobald Menschen sich im Namen ihrer Religion, ihres Gottes entscheiden, Andersdenkende zu verdrängen, unterdrücken oder zu töten, ist das ein nicht lebbares Modell. Ich möchte mit „Samson et Dalila“ lieber zeigen, was passiert, wenn Menschen fanatisch sind, wenn Religionen einander ausschließen und Macht ausgeübt wird. Macht ist ja eines der wichtigen Phänomene, die große Kunst, große Oper immer wieder behandeln.

Wenn ich Gretchen wäre, müsste ich Sie jetzt natürlich fragen: „Nun sag, wie hast du's mit der Religion?

ALEXANDRA LIEDTKE: Ich bin leider gar nicht gläubig aufgewachsen. Ich wurde zwar - damit meine Großmutter in Frieden sterben konnte – katholisch getauft, durch meine Hippie-Eltern wurde ich aber schon zwei Wochen später wieder aus der Kirche „ausgetreten“. Aber ich sehe Religion als wichtigen Teil unserer Kultur, mit ihr setze ich mich wie in meinem Beruf auseinander also mit ethischen Werten, Moralvorstellungen, Ritualen. Zu diesen Ritualen zählen auch die Gebete, die meine drei Kinder vor dem Schlafengehen sprechen. Ich habe sie getauft und möchte ihnen eine gewisse Form der Kultur weitergeben, damit sie später die Chance haben, sich mit Überzeugung dafür oder auch für etwas ganz anderes zu entscheiden.

Was steht in näherer Zukunft auf Ihrem Arbeitsplan?

ALEXANDRA LIEDTKE: Also, wenn ich die Staatsopernpremiere überlebe (lacht), dann interpretiere ich am Salzburger Landestheater zum Saisonauftakt im Herbst den Hamlet und ebendort Rossinis komische Oper „La Gazzetta“. Dem Wechsel von Sprech- und Musiktheater bleibe ich also treu, weil die unterschiedlichen Herangehensweisen einfach spannend sind.

Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča (Dalila) und der französische Tenor Roberto Alagna  (Samson)
Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča (Dalila) und der französische Tenor Roberto Alagna (Samson) © Staatsoper/Michael Pöhn
Samson (Roberto Alagna ) als Anführer der unterdrückten Hebräer
Samson (Roberto Alagna ) als Anführer der unterdrückten Hebräer © Staatsoper/Michael Pöhn