Der NDR hält „Lovemobil“ unter Verschluss und hat sich vom Film distanziert. Die Arbeit über Sexarbeiterinnen am Wohnmobil-Strich, irgendwo im Wald in Niedersachsen, sollte vom Alltag der Prostitution erzählen. So nahe, wie man es sonst nie sieht. Auf Festivals bejubelt, mit Auszeichnungen überhäuft, war dem Debüt von Elke Lehrenkrauss die Aufmerksamkeit sicher. Ein Film im Höhenflug. Es folgte der harte Aufprall. Mitsamt Eskalation, zurückgegebenen Ehrungen, der zurückgezogenen Nominierung zum Grimme-Preis und einer auf den ersten Blick klaren Schuldigen: der Regisseurin. Wie das Team von STRG_F, pikanterweise auch beim NDR angesiedelt, herausfand, waren die Sexarbeiterinnen und einige der Freier und Zuhälter gar keine, sondern Darstellende. Und einige der Dialoge von der Filmemacherin am Set vorgegeben. Lehrenkrauss hatte das nach mehrjähriger Recherche verschwiegen: gegenüber dem Publikum, den Fördergebern, der Redaktion und auch einigen Protagonisten. Ein Halbsatz der Filmemacherin verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Sie habe „eine authentischere Realität geschaffen als die Realität selbst.“ Laut „artechock.de“ fehle die Hälfte ihres Satzes: „Durch die Anwesenheit der Kamera verfremdet man die Realität. Authentizität ist auch eine Frage, wie Regie-Arbeit mit diesem Fakt umgeht.“


All das hat eine hitzige Debatte entfacht. Sind das Fake News? Wie viel Inszenierung verträgt der Dokumentarfilm? Welche Rolle spielte die Redaktion? Und was sagt das über die Arbeitsbedingungen in der Branche aus? „Es ist wichtig, wie die Diskussion geführt wird“, sagt der Filmemacher und Produzent Jakob Brossmann („Lampedusa im Winter“, „Gehört gesehen – ein Radiofilm“), der auch im Vorstand der Interessensvertretung dok.at ist. „Der Dokumentarfilm ist eine Kunstform, die sich auf einem schmalen Grat bewegt. Dort, wo sich die Freiheit der Kunst mit der Selbstverpflichtung überschneidet, die Welt so zu zeigen, wie wir sie erleben. Es ist immer nur eine Annäherung an die Welt.“


Es sei „ein Missverständnis, dass die Kamera die Welt automatisch so zeigt, wie sie ist. Um die Welt im Kino erfahrbar zu machen, braucht es einen künstlerischen Zugriff.“ Es beginne schon damit, dass man sich für ein Thema entscheide. „Das Bild hat ein Format. Die Welt ist nicht in dieses pressbar und dauert auch nicht 90 Minuten.“ Eine Filmproduktion enthält viele Eingriffe: Rohmaterial wird im Schnitt verdichtet, Ton wird hinzufügt, es folgt eine Farbkorrektur etc.


„Es gibt viele Spielarten von Dokumentarfilmen“, sagt Elsa Kremser, deren mit Levin Peter produzierte, preisgekrönte Arbeit „Space Dogs“ Straßenhunden durch Moskau folgt und sobald wie möglich ins Kino kommen soll. Der Dokumentarfilm brauche, im Gegensatz zu TV-Dokus, die künstlerische Freiheit und das Vertrauen in die Filmschaffenden. Bräuchte es eine zusätzliche Kontrollinstanz? „Nein, das wäre das Gegenteil von Vertrauen.“
Über „Lovemobil“ denken sie ähnlich: Die Inszenierung sei klar erkennbar. „Es ist definitiv zulässig, Szenen im Rahmen der dokumentarischen Reflexion, die man sonst nicht haben könnte, zu inszenieren. Das schützt Menschen, die sich vor der Kamera verletzbar machen würden. Die Regisseurin hat es reflektiert. Sie kennt die Realität der Sexarbeiterinnen.“ Im Gegensatz zu Reporter Claas Relotius, der im „Spiegel“ Handlungen und Personen seiner Reportagen teils erfand. „Die Tatsache, dass sie inszeniert hat, ist nicht das Problem“, so Brossman. Aber: „Sie hätte es dem Publikum und vor allem ihren ProtagonistInnen gegenüber transparent machen müssen.“

Und Kremser ergänzt: „Dass man die ganze Schuld bei der Regisseurin sucht, ist nicht fair. Dass die Bilder inszeniert sind, hätten auch die Verantwortlichen der Redaktion sehen können.“ Das Narrative im Dokumentieren liege im Trend, gerade im Streaming. Der Druck auf Filmemachende sei gestiegen, cineastische Erzählwelten, starke Einstiegs- und Ausstiegsszenen erforderliche Versprechen im Treatment. „Aber eigentlich muss ein Dokumentarfilm vor Drehbeginn ergebnisoffen sein“, sagt Kremser. Komplimente, die man zu hören bekommt: Es sei so „spannend“ wie ein Spielfilm. Ein Paradoxon. „Vor einer dokumentarischen Kamera kann nicht alles passieren. Man kann niemals die gleiche Erzählwucht, Bildgewalt oder Intimität wie bei einem Spielfilm bekommen.“


Brossmann ortet auch etwas Zerstörerisches in der Debatte: „Dass die legitimen Mittel des dokumentarischen Filmemachens diskreditiert werden und das Bild des reinen, unbefleckten Dokumentarfilms zelebriert wird, den es so nicht gibt.“
Übrigens: Österreich ist eine erfolgreiche Doku-Großmacht, in der ambitionierte Projekte im Gegensatz zu Deutschland auch ohne Sender gefördert werden. Viele entstehen in Kooperation mit dem ORF. Auch wenn der sie dann in den Spätabend verräumt und den Wunsch vieler Filmschaffender nach einer zugehörigen Erklär-Sendung ausschlägt. Dort hätte man auch die Entstehung von „Lovemobil“ im Sinne der Transparenz erörtern können. Wenn man das gewollt hätte.