Die 58. Viennale ist eröffnet. Wien ist tatsächlich das gelungen, was sich für Cannes heuer als zu hohe Hürde herausstellte: Ein Filmfestival in physischer Form auf die Beine zu stellen - wenn auch mit deutlichen Abstrichen im Vergleich zu den Ausgaben der Vorcoronazeit. "Mir scheint, als wäre das ein weiterer Neubeginn in diesem Jahr, in dem das Virus alles infrage gestellt hat", zeigte sich Direktorin Eva Sangiorgi Donnerstagabend im Wiener Gartenbaukino nachdenklich. Um die Übersicht über den Film-Dschungel zu bewahren, empfiehlt unser Filmkritiker zehn Arbeiten, die in den kommenden Tagen zu sehen sein werden.

Der Eröffnungsfilm

„Miss Marx“ porträtiert die engagierte Tochter des ersten Marxisten. Eleanor Marx sprüht vor Energie und rockt ganz unzeitgemäß zu Punkmusik. Ansonsten hat Regisseurin Susanna Nicchiarelli aber ein wenig tiefgehendes Kostüm-BioPic vorgelegt, das eher auf die wenig außergewöhnlichen privaten Geschichten fokussiert denn auf die Arbeit der frühen feministische Intellektuellen.

Das Heimspiel

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ des Wiener Filmpaares Tizza Covi und Rainer Frimmel entführt direkt vor der Haustür der intellektuellen Viennale in die Alltags-Unterwelt der wilden 60er Jahre. Wienerlied-Sänger Kurt Girk und Meidlinger Kleingangster Alois Schmutzer erzählen bei einem Achterl aus dem Rotlicht- und Glücksspielmilieu von damals, als Polizeigewalt noch kein Thema und Messerstechereien unter Freunden an der Tagesordnung waren. Kinostart 20.11.

Der Süßigkeiten-Western

„First Cow“ ist eine Männerfreundschaftsgeschichte aus den Anfangsjahren der Vereinigten Staaten, erzählt von einer der wichtigsten US-Regisseurinnen Kelly Reichardt. In einem Kaff am Rande der Wildnis wollen sich zwei Außenseiter den amerikanischen Traum erfüllen indem sie Süßspeisen für die dreckigen Trapper zubereiten. Doch die Milch dafür ist gestohlen von der ersten Kuh in diesem Teil der neuen Welt. Wunderbar angenehme Gründungsgeschichte des amerikanischen Kapitalismus. 

Das Dschungel-Abenteuer

„Selva Trágica | Tragic Jungle“ ist ein beindruckender Film der jungen mexikanischen Regisseurin Yulene Olaizola, die darin von der atmosphärisch-langsamen Verfolgungsjagd einer Sklavin und den brutalen Abenteuern der Kautschuk-Arbeiter tief im Dschungel erzählt. Die Hitze und Feuchtigkeit wandert dabei direkt von der Leinwand in den kalten Wiener Herbst.

Das brandaktuelle Jugenddrama

„Never Rarely Sometimes Always“ verdient schon vorab den Preis für den besten Titel des Festivals. Eliza Hittman nimmt in ihrem starken dritten Film die vier Antwortmöglichkeiten am Fragebogen einer New Yorker Abtreibungsklinik auf. Trotz des leider besonders in den USA brandaktuellen Themas, gelingt ihr ein sensibles Teenager-Drama, das ohne allzu viel Worte von seiner Protagonistin statt von der Politik erzählt. Eine alles andere als depressive Reise und eine lange Nacht in New York, die man gesehen haben sollte. Großer Jury-Preis der Berlinale mit regulärem Kinostart direkt kommende Woche ab 29.10.

Der episodische Geheimtipp

„Eyimofe | This Is My Desire“ ist eine nigerianische Doppelgeschichte in einem Film. Arie Esiri und Chuko Esiri bringen uns nach Lagos, wo der Technik-Tausendsassa Mofe und die Friseurin Rosa versuchen sich durchzuschlagen. Elliptisch sind die beiden Hälften des Films nur Episoden, die das Leben der beiden geschickt andeuten, ohne dabei überheblich gegenüber ihrem Publikum oder zum Mitleidskino zu werden.

Der Goldene Bär

„Sheytan Vojud Nadarad | There Is No Evil“ folgt der iranische Humanismus-Regisseur Mohammad Rasoulof der Gerechtigkeits-Motiv seines vorigen Film und erzählt in mehreren ineinandergreifenden Episoden aus dem Todestrakt eines Gefängnisses. Raffiniert-kritisches iranischen Kino das meisterhaft von der menschlichen Moral erzählt. Verdienter Gewinner des Goldenen Berlinale-Bärs. Kinostart: 2021

Der Genre-Versuch

„El prófugo | The Intruder“ ist ein etwas verworrener Horrorfilm Light aus dem Berlinale-Wettbewerb. Natalia Meta erzählt von einer südamerikanischen Sängerin, die nach einem Vorfall ihre Stimme und ihre Nerven verliert und immer weiter in den Strudel eines übernatürlich-metaphorischen Eindringlings gerät. Kein Halloween-Schocker, aber immerhin der Versuch ein wenig Genrekino in die ansonsten sehr brave Viennale zu bringen.

Der Filmemacher-Dialog

„Hopper/Welles“ ist das wunderliche Nebenprodukt einer Recherche, das gerade beim Filmfestival Venedig präsentiert wurde (an dieser Stelle bereits vorgestellt). Casting-Aufnahme für Orson Welles’ letzten Film mit ‘Easy Rider’ Dennis Hopper und Begegnung zweier Alpha-Männer, die 1970 tief in ihr Inneres blicken lassen. Eine filmhistorische Perle für die kleine Leinwand.

Der langsame Tiefpunkt

„Rizi - Days“ ist etwas für hartgesottene Fans des sogenannten Slow-Cinema und des vom Westen exotistisch bewunderten Taiwanesischen Festival-Regisseurs Tsai Ming-liang. Quälend banale minutenlange Standkamera-Aufnahmen von Alltagstätigkeiten, die in einer dialogfreien Begegnung zweier Männer bei einer Massage münden. Einfallslose Kunstkinokost, die auch auf der großen Leinwand keine Wirkung entfaltet.

Das gesamte Programm finden Sie hier.